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Geheime Tschernobyl-Protokolle

Gorbatschow und das Politbüro der KPdSU wußten, daß die Tschernobyl-Reaktoren gemeingefährlich sind, Teil 2  ■ Aus Moskau Alla Jaroschinskaja

Nach dem ersten Volksdeputiertenkongreß der UdSSR wandte sich eine Gruppe von Parlamentariern, von denen ich eine war, an den Generalstaatsanwalt der UdSSR mit der Aufforderung, gegen die Personen gerichtlich vorzugehen, die wissentlich Informationen über die Katastrophe von Tschernobyl unterdrücken. Im Antwortschreiben des Generalstaatsanwalts hieß es lapidar, die führenden Personen des Atomkraftwerkes von Tschernobyl seien doch bereits zur Verantwortung gezogen worden. Da die Katastrophe eindeutig eine Folge der Verletzung zahlreicher Betriebs- und Sicherheitsvorschriften gewesen sei, habe man die Ermittlungen bezüglich möglicher Konstruktionsfehler des Reaktors eingestellt.

Schon im Bericht der Regierungskommission zu Tschernobyl ist jedoch anderes zu lesen. Hier finden sich Zitate von Experten, die sagen, daß die Katastrophe auf Konstruktionsmängel am Reaktor zurückzuführen ist. Man war aber der Meinung, daß die Konstruktionsmängel des Unglücksreaktors strafrechtlich keine Bedeutung hätten.

Bekannt ist, daß sich ein halbes Jahr vor der Katastrophe ein am Kursker Atomkraftwerk beschäftigter Spezialist schriftlich an die sowjetische Behörde für die Überwachung von Atomenergie gewandt und eindringlich vor der Gefährlichkeit dieses Reaktortypes gewarnt hatte. Er hatte geschrieben, daß es wichtig wäre, eine unabhängige Expertise dieses Reaktortyps vorzunehmen, die Steuerstäbe neu zu konstruieren, die dann ja auch eine Ursache des Tschernobyl-Unfalls gewesen sind. Doch in der zuständigen Behörde wanderte der Brief ohne weitere Konsequenzen in die Akten.

Auch kurz nach der Katastrophe im April 1986 war nicht in erster Linie von Bedienungsfehlern die Rede. Der Leiter der Untersuchungsgruppe zur Sicherheit aller sowjetischen Atomkraftwerke, V.P. Volkov, teilte der Regierung im Mai mit, Ursache der Katastrophe wären nicht Bedienungsfehler des Personals gewesen, Ursache sei die Konstruktionseigenschaft des Reaktors.

Am 5.Mai 1986 hatte eine aus mehreren Behörden zusammengesetzte Kommission ebenfalls auf schwerwiegende Konstruktionsmängel des Reaktors hingewiesen. Trotz all dieser Informationen und Stellungnahmen blieb die Sowjetunion von Anfang bis zu ihrem Ende bei dem Erklärungsversuch: alleinige Ursache des Reaktorunfalles wäre menschliches Versagen gewesen.

Im Bericht des Kurtschatow-Institutes für Atomenergie heißt es, „Hauptursache der Havarie war das ausgesprochen seltene Zusammentreffen der Nichtbeachtung von verschiedenen Betriebsvorschriften von seiten des Personals, wobei auch Mängel in der Konstruktion der Steuerstäbe sichtbar geworden sind (das kursiv Gedruckte [A.J.] fehlt in den offiziellen Berichten der UdSSR, wie sie bei Konferenzen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vorgelegt wurden. Offensichtlich gibt es eine Wahrheit für den externen und eine für den internen Gebrauch.)

„Streng geheim – einziges Exemplar“

„Streng geheim – einziges Exemplar. Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU. 3. Juli 1986. Den Vorsitz führte Genosse M.S. Gorbatschow. (...)

1. Referat der Regierungskommission zur Untersuchung der Ursachen der Havarie im Atomkraftwerk von Tschernobyl am 26. April 1986.

Gorbatschow: (...) Das Wort hat Genosse Schtscherbina.

Schtscherbina, B.E. (stellv. Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR): (...) Die Havarie ereignete sich als Folge grober Verletzungen der technischen Vorschriften durch das Bedienungspersonal und in Zusammenhang mit schwerwiegenden Konstruktionsfehlern des Reaktors. Die Kommission hält jedoch Bedienungsfehler des Personals für die Hauptursache der Katastrophe.“

Etwas weiter im Vortrag wird er jedoch deutlicher: „Die Gruppe der Spezialisten, die die Sicherheit des Reaktors vom Typ RBMK prüfte und im Auftrag der Kommission arbeitete, kam zu dem Ergebnis, daß der Reaktor nicht den gültigen Sicherheitsanforderungen entspricht. Die Spezialistengruppe kommt zu dem Schluß, daß der Reaktor einer Expertise auf internationalem Niveau nicht standhalten würde und international abgelehnt würde. Die Reaktoren vom Typ RBMK sind potentiell gefährlich.

(...) Aus diesem Grund ist die sicherlich nicht leichte Entscheidung zu treffen, keine neuen Reaktoren vom Typ RBMK mehr zu bauen. (...)

Allein im Zeitraum des 11. Fünfjahresplanes mußten 1.042 Notabschaltungen bei AKWs vorgenommen werden, 381 davon bei AKWs vom Typ RBMK. Im AKW von Tschernobyl gab es 104 dieser Notabschaltungen. Davon waren 35 auf Versagen des Personals zurückzuführen. (...)

Gorbatschow: Die USA bauen keine AKWs mehr

Gorbatschow: Die Kommission hat sich mit der Frage beschäftigt, warum ein so unausgereifter Reaktor überhaupt industriell in Betrieb genommen worden ist. In den USA werden diese Reaktoren doch überhaupt nicht eingesetzt. Ist das nicht so, Genosse Legasow?

Legasow: Das ist richtig.

Gorbatschow: Der Reaktor ist also in Betrieb genommen worden, ohne daß man die theoretischen Forschungen an ihm weitergeführt hätte. (...) Und wer ist auf die Idee gekommen, AKWs in der Nähe von Städten zu dislozieren? (...) Die Amerikaner haben übrigens seit ihrer Havarie 1979 keine neuen AKWs mehr gebaut. (...) Wieviele Havarien hat es denn gegeben?

Brjuchanow (Direktor des AKWs von Tschernobyl): Pro Jahr gibt es ein bis zwei Havarien. Wir wußten übrigens nicht, daß es 1975 schon einen ähnlichen Vorfall im AKW Leningrad gegeben hatte.

Gorbatschow: (...) Was können Sie über den Reaktor RBMK sagen?

Meschkow (erster stellv. Minister für mittleren Maschinenbau): Der Reaktor selbst ist erprobt. Lediglich eine Kuppel hat er nicht. Werden die Bedienungsvorschriften streng beachtet, kann man ihn als ungefährlich einstufen. (...)

Gorbatschow: V.A. Sidorenko (einer der leitenden Personen in der staatlichen Atomenergieaufsichtsbehörde der UdSSR, A.J.) schreibt, daß die Reaktoren vom Typ RBMK auch nach einer Neukonstruktion nicht den internationalen Standards entsprechen werden. (...)

Schascharin (stellv. Minister für Energie und Elektrifizierung der UdSSR): (...) Man hat nicht gewußt, daß der Reaktor in so einer Situation hochgehen würde. Ich bin mir auch nicht sicher, ob eine neuere Version mehr Sicherheit bringen würde. Es kann zu zig Situationen kommen, in denen das passiert, was sich in Tschernobyl ereignet hat. Hier denke ich insbesondere an die ersten Blöcke der Atomkraftwerke von Leningrad, Kursk, Tschernobyl. Diese AKWs haben kein Notkühlsystem. Sie sollten zu allererst abgeschaltet werden. (...) Nach meiner Überzeugung dürfen keine Reaktoren vom Typ RBMK mehr gebaut werden (...)

Gorbatschow: Lassen sich diese Reaktoren denn nicht so weit verbessern, daß sie internationalen Normen entsprechen?

Alexandrow (Leiter des Kurtschatow-Institutes): (...) Alle Länder mit einer entwickelten Atomenergie arbeiten nicht mit dem Typ Reaktor, mit dem wir arbeiten.

Majorez (Mitglied der Regierungskommission): Eines läßt sich sehr eindeutig sagen: niemand in der Welt würde sich für den Bau der RBMK-Reaktoren entscheiden. (...) Ich kann es bestätigen: Auch eine verbesserte Version des RBMK wird nicht allen unseren Vorschriften entsprechen.

Ryschkow: (...) Wäre die Katastrophe nicht jetzt passiert, sie wäre beim momentanen Stand der Dinge jederzeit möglich gewesen. (...) Wie wir jetzt wissen, gab es kein Jahr, in dem es nicht ein Unglück in einem AKW gegeben hätte. Die Konstruktionsfehler am RBMK waren bekannt, doch die entsprechenden Schlußfolgerungen haben weder die Ministerien noch die Akademie der Wissenschaften der UdSSR gezogen (...)“

Weiter so!

Das waren also die Einsichten der Spezialisten und Teilnehmer einer streng geheimen Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU über die Zuverlässigkeit des Reaktoren vom Typ RBMK. Und was sind die Schlußfolgerungen?

Bereits ein Jahr nach Tschernobyl wurden wieder zwei Reaktorblöcke vom Typ RBMK angefahren: der dritte Block in Smolensk und der zweite in Ignalina.

Beim Durchlesen der Niederschrift der Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU kommt man zu dem Schluß, daß Michail Gorbatschow, von seiner Ausbildung her eigentlich Jurist, sich sehr intensiv mit den Fragen der Atomkraftwerke beschäftigt hat, alle unsere AKWs, einschließlich der „guten“ vom Typ WWER kannte.

Wäre nicht der mißlungene Putsch vom August 91 gewesen, wir wüßten bis heute nicht, daß sich sogar Politbüromitglieder wie Gromyko und Solomenzew auf dieser Sitzung darüber mokierten, daß sie erst jetzt die Wahrheit über unseren Reaktorbau erfahren hätten.

Heute, sieben Jahre nach Tschernobyl, hat sich in der Welt der Atomenergie der Staaten der früheren UdSSR wenig geändert. Es sind nach wie vor die gleichen AKWs in Betrieb. Das AKW von Ignalina (RBMK) in Litauen ist, nachdem es zwischenzeitlich von der Opposition geschlossen werden konnte, wieder in Betrieb. Armenien wird sein AKW wieder in Betrieb nehmen, ungeachtet der Tatsache, daß es auf erdbebengefährdetem Gebiet steht. Und auch die Ukraine, die laut eigenem Beschluß Tschernobyl 1993 schließen wollte, ließ Ende letzten Jahres den 1. und 2. Block wieder ans Netz. Der weißrussische Parlamentspräsident Schuschkewitsch hat erst kürzlich verlauten lassen, man wolle zwei AKWs bauen.

Besonders aktiv ist die Atomindustrie heute jedoch in Rußland. So hat der frühere Ministerpräsident Rußlands Jegor Gaidar am 26. März 1992 den Bau von mehreren neuen AKW verfügt. Und das, obwohl noch 1991 die russische Akademie der Wissenschaften die Schließung der Mehrzahl der russischen AKWs gefordert hatte.

Und am 28. Dezember letzten Jahres gab die russische Regierung bekannt, daß 33 neue Atomenergieblöcke, darunter auch Reaktoren vom Typ RBMK, geplant seien.

Sicherlich erinnern sich viele noch an den tragischen Tod von Valerij Legasow, einem der verantwortlichen Liquidatoren von Tschernobyl. Auf der oben erwähnten streng geheimen Sitzung des ZK der KPdSU hatte er zu Gorbatschow gesagt:

„Der Reaktor vom Typ RBMK entspricht in mehrerlei Hinsicht weder unseren noch internationalen Normen. (...) Wir tragen natürlich Schuld dafür, daß wir uns mit diesem Reaktor nicht genauer beschäftigt haben. (...)“ Hat man aus diesen Erkenntnissen gelernt?

Die Angst des Politbüros

Jedes Jahr, wenn sich dieser der Tschernobyl-Jahrestag näherte, stand er auf der Tagesordnung des Politbüros. Es wurde nämlich befürchtet, daß es am Jahrestag zu „antisowjetischen Aktionen“ kommen werde, die es natürlich zu verhindern galt.

Kurz vor dem ersten Jahrestag bot Herr Falin, der mehrere Jahre Botschafter in der BRD gewesen ist, seine Dienste zur Verhinderung „möglicher Versuche imperialistischer Zentren an, den Tschernobyl-Jahrestag für eine groß angelegte antisowjetische Kampagne zu mißbrauchen.“ Der Plan selber war von Jegor Ligatschow persönlich bearbeitet worden. Und alle stimmten sie für diesen Plan: Gorbatschow, Schewardnadse, Ryschkow, Ligatschow. Und das, obwohl sie auf ihren Sitzungen selbst Tschernobyl als einen „kleinen Krieg mit Massenvernichtungswaffen“ bezeichnet hatten.

Die Journalistin Alla Jaroschinskaja hat für ihre Veröffentlichungen über Tschernobyl den Alternativen Nobelpreis 1992 erhalten. Die taz veröffentlichte den ersten Teil der Tschernobyl-Geheimprotokolle am 24. April.

Aus dem Russischen: Bernhard Clasen

Foto oben: Das Politbüro im Jahr nach der Katastrophe. Ganz rechts Eduard Schewardnadse, in dem Mitte Nikolai Ryschkow, Michael Gorbatschow und Andrei Gromyko Foto: taz-Archiv

Foto unten: An Leukämie erkrankte Kinder im Krankenhaus von Mogiliow, 100 Kilometer entfernt von Tschernobyl Foto: Theo Heimann

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