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Alttöner und Neubauten

■ Sergiu Celibidache war in Bremen! Und dirigierte sogar! Alles für den Bau einer neuen Philharmonie!

Mit zwei nicht gerade taufrischen sinfonischen Werken, beide vor 105 Jahren entstanden, lockte der Förderverein Neue Philharmonie das Publikum in den gammeligen Glockensaal: zum 1. Galakonzert für den Neubau einer Philharmonie in Bremen. Richard Strauß' Sinfonische Dichtung „Don Juan“ und Tschaikowskys Fünfte Sinfonie sind nicht gerade geeignet, den durch Tonkonserven gesättigten Musikfreund von der Stereoanlage wegzulocken, zumal die Kosten schon einen Grundstock für die Zweit-CD-Sammlung ergeben hätten. Und doch kamen alle in Strömen: Celi war da! Und mit ihm seine Münchener Philharmoniker. Sergiu Celibidache — ein magischer Name: der große Geheimnisvolle, der Denker, Philosoph und Guru unter den Taktstockschwingern. Er läßt sich nicht schlicht auf den Plattenteller legen, zu Celi muß man kommen, dann wird man seiner Ausdeutung teilhaftig.

Ein wunderschöner großer Abend. Oben die festlich gewandete Hundertschaft, beherrscht von dem lichtumflossenen Dirigenten, unten im Abglanz das festlich gewandete Publikum — ergriffen lauschend und in verkrampfter Sitzhaltung, um das bekannte Quietschen des historischen Gestühls zu bezwingen. Doch wie anders als sonst kam Don Juan daher: grüblerisch in gedehntem Tempo; gravitätisch schritt er zu Taten, denen das Anrüchige genommen ward. Nicht sex and crime, Wahrheit wurde gesucht. Beinah schien es, als sei es dem virtuosesten Lügner in der Musikgeschichte gelungen, authentisch menschliche Tiefe auszuloten.

Was mochte wohl unter den Händen des Maestro aus der Tiefe Tschaikowskys zu uns dringen? Um es gleich vorweg zu sagen, es war grauenhaft: Die ersten Takte ließen zunächst einen Hollywood-Cinemascope-Film über Tschaikowsky erwarten. Doch Schwulst und Kitsch ist Celibidaches Sache nicht. Der Wahrheitssucher mit der weißen Löwenmähne machte sich auf, Tschaikowsky zu sezieren. Nicht dessen Partitur, sondern ihn selbst. Peter Iljitschs Seelenleben wird schonungslos offengelegt. Die teils depressiven, teils von hemmungslosem Selbstmitleid geprägten melancholischen Züge des Werkes werden durch den bis ins Detail durchgestalteten Streicherpart wie unter der Lupe vergrößert.

Wie die ersten Geigen sich winden unter den kalten, bösartigen Einwürfen des Bleches, wie die Celli lakonisch vorgetragene Holzkantilenen mit innerem Leben zu erfüllen suchen, wie die Kontrabässe den brutalen Schlägen der Pauke menschliche Wärme und Standhaftigkeit entgegenstellen wollen, wie Bratsche und 2. Geige, zutiefst ermattet, schwerblütige Pizzikati zupfen — das erfüllt den Hörer mit Spannung und Entsetzen. Im zerquälten Ringen kurze Träume von Schönheit und Frieden, und all dies weggewischt durch manisch hysterische Triumpfmärsche, die ins Nichts führen. Mir wurde recht unbehaglich: Als wäre ich ein Voyeur, der im krisengeschüttelten Intimleben von Leuten herumschnüffelt, die ihn nichts angehen.

Zuweilen gelang es, dem suggestiven Zwang zu entkommen. Dann konnte man sich an der eleganten Wucht des Paukers erfreuen, man genoß den tragend- präsenten Klang der Tuba und konnte die beeindruckenden Wirkungen des kleinen Fingers des Maestro auf das Klanggeschehen beobachten. Das Publikum befreite sich vom Alptraum dieser Werkausdeutung durch heftigen Beifall. Trost fand ich allerdings erst, als aus dem Dom zu Bremen zarte, erfüllte Töne klangen. Domkantor Helbig probte. Das Gehörte weckte Vorfreude auf ein Konzertereignis von ganz anderem Kaliber, aber nicht minderer Bedeutung für das Kulturleben in dieser Stadt: Am Sonntag wird im Dom zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto Schönbergs Kantate „Bericht eines Überlebenden aus Warschau“ und Cherubinis Requiem ertönen. Erlöse dieses Konzertes gehen an die Gedenkstätte Auschwitz. Zahlreiches Erscheinen ist daher Pflicht. Mario Nitsche

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