■ Eine Intellektuellen-Initiative will Jens Reich for president
: Zu schön, um wahr zu sein?

Nein, der geborene Favorit fürs Präsidentenamt ist Jens Reich zweifellos nicht, kein Mann aus des Kanzlers Partei, nicht einmal ein Parteimann, ein Skeptiker der Einheit wie der etablierten Politik. Originell, aber chancenlos, so lautet das reflexartig vorgetragene Urteil der Bonner Szene. Dabei scheint es gerade der Charme des Vorschlages zu sein, der die Realisten so sicher macht, er sei in dieser Republik eben nicht zu verwirklichen: Zu schön, um wahr zu sein. – Aber, warum eigentlich muß die erste Präsidentenwahl nach der Vereinigung zwangsläufig nach den überkommenen Spielregeln stattfinden? Schließlich ist seit 89 schon mehr ins Rutschen geraten als die Auswahlmodalitäten für die Villa Hammerschmidt. Und daß künftig die sozialdemokratische Basis ihren Parteichef wählt, wäre in Bonn vor sechs Wochen auch noch als Undenkbarkeit gehandelt worden.

Eines jedenfalls ist unstrittig: Heute vor allem die Bonner Wahrscheinlichkeiten auf seiner Seite zu haben macht noch keinen Qualifikationsnachweis für die Weizsäcker-Nachfolge. Je nahtloser ein Anwärter in den Erwartungshorizont des etablierten Parteien- und Medienbetriebes paßt, um so sicherer wird er als Präsident das entschlossene „Weiter so“ verkörpern. Das reicht am Ende für eine erfolgreiche Kandidatur, einen Beitrag zur bundesdeutschen Krisenbewältigung verspricht es nicht. Mit Jens Reich hingegen kandidiert einer, der für die gravierenden Problemlagen der Republik Antworten geradezu personifiziert. Im innerdeutschen Spaltungsprozeß ist er einer der wenigen, der dem Westen den Osten – und umgekehrt – zu erklären versteht, ohne Gefahr zu laufen, zum Sprachrohr einer Seite zu werden. In der über ihre künftige internationale Rolle hoch verunsicherten Nation stünde Reich, der Mitteleuropäer, für tabufreie Bescheidenheit. Und in der wachsenden Distanz zwischen Politik und Gesellschaft könnte gerade ein Politikverdrossener des Jahres 90 vermitteln, dem heute dämmert, daß der Rückzug auf die Kolumne nicht reicht.

Aber es wäre jetzt an der Gesellschaft, die andauernd über die Krise der Politik klagt, einen aus ihren Reihen ins höchste Amt zu bringen. Oder bedarf es gar nicht der großen Kampagne für den Bürgerrechtler-Präsidenten, weil gerade die machtpolitische Naivität, die in dem Vorschlag mitschwingt, seine ganze Überzeugungskraft ausmacht? Vielleicht übersehen ja die vorauseilend abwinkenden Skeptiker das Bedürfnis der Parteien, mit der Gesellschaft ein Stück Macht und Risiko zu teilen. Die jüngsten Kohlschen Kriterien für den künftigen Präsidenten jedenfalls passen auf Reich so schlecht nicht. Matthias Geis