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„Die Kühle kommt aus Brüssel“

Die Tschechische Republik möchte zwar so schnell wie möglich volles EG-Mitglied werden, sich aber nicht den westeuropäischen Standards anpassen. Das Ergebnis sind wachsende Verwirrungen in der Außenpolitik  ■ Aus Prag Sabine Herre

Václav Klaus wollte es einfach nicht glauben. Als er nach der Entgegennahme des Ludwig-Erhard- Preises Ende Mai mit den anwesenden Honoratioren über die Wirtschaftsreformen in Ostmitteleuropa plauderte, da mußte er doch tatsächlich festsstellen, daß noch keiner der Bonner Herren in der „goldenen Stadt“, in Prag, gewesen war. Wie also, so der Ministerpräsident leise aufstöhnend, sollen die uns und unsere Probleme verstehen können?

Die Sorgen des tschechischen Premiers sind verständlich. Und sie werden von seinen Landsleuten geteilt. Das Mißtrauen gegen die Staaten Westeuropas wächst nicht nur in der Moldaumetropole langsam, aber stetig. „Die Kühle kommt aus Brüssel“ lautete vor wenigen Wochen der Titel eines Kommentars über das westeuropäische Importverbot für osteuropäisches Fleisch. Die Anspielung auf Zdeněk Mlynářs „Der Frost kam aus dem Kreml“ – einer Beschreibung des gewaltsamen Endes des Prager Frühlings 1968 – war nur zu offensichtlich.

Kein „Dritter Weg“

Für viele Tschechen ist es unverständlich, warum die EG weiterhin lediglich zu einem Assoziierungsvertrag mit der jungen Republik bereit ist, eine Aufnahme in die Gemeinschaft jedoch auch drei Jahre nach der Revolution in weiter Ferne liegt. Die von der EG gewünschte mitteleuropäische Orientierung, eine institutionalisierte Zusammenarbeit mit Polen, Ungarn und der Slowakei, wird dagegen weitgehend abgelehnt: Nach der Teilung der Tschechoslowakei seien die früheren Diskussionen über einen mitteleuropäischen „Dritten Weg“ zwischen Ost und West überholt.

Doch wenn die Vertreter des Prager Außenministeriums an die Brüsseler Türen klopfen, stecken sie in einem unübersehbaren Widerspruch. Einerseits fordert die Tschechische Republik (ČR) Hilfen der EG mit der Begründung, daß sie als ehemals sozialistisches Land zum Umbau ihres politischen und wirtschaftlichen Systems die Unterstützung der kapitalistischen Welt benötige. Zum anderen unterstreicht die ČR ihren Anspruch auf einen schnellen EG-Beitritt jedoch gerade damit, daß sie diesen Umbau weitgehend vollzogen hat. Die Forderung der EG-Vertreter, in den Assoziationsvertrag eine besondere Klausel über die Einhaltung der Menschenrechte aufzunehmen, wurde so empört zurückgewiesen.

Keine Flüchtlinge

Der Wunsch, bereits „dazuzugehören“, gleichzeitig sich jedoch gewissen westeuropäischen Standards zu verweigern, zieht sich durch mehrere außen- und innenpolitische Entscheidungen der Prager Regierung. Am deutlichsten wird dies bei den derzeitigen Verhandlungen über den „Rückführungsvertrag“ der über die Tschechische Republik nach Deutschland geflüchteten Asylbewerber. Obwohl die Regierung auf die niedrigste Arbeitslosenrate Europas hinweisen kann, obwohl sie die Inflation als einziges osteuropäisches Land in den Griff bekommen hat und sowohl Handelsbilanz als auch Haushalt ein Plus aufweisen, sieht man sich in Prag außerstande, die Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen auch nur zu diskutieren.

Obwohl in den 70er und 80er Jahren unzählige Tschechen das Land sicher nicht nur aus politischen Gründen verlassen haben, werden nun selbst Asylbewerber aus Ex-Jugoslawien als Wirtschaftsflüchtlinge und „Kriminelle“ an den Pranger gestellt. Der Vertrag mit Deutschland soll erst unterzeichnet werden, wenn man ein ähnliches Rückführabkommen mit der Slowakei unterzeichnet und so die weitere Abschiebung der Flüchtlinge sichergestellt hat. Einhellige Begründung: Was das reiche Deutschland nicht kann, das können wir schon gar nicht. Daß viele westeuropäische Großstädte trotz aller Probleme inzwischen zu multikulturellen Zentren geworden sind, spielt in den Diskussionen keine Rolle. Stattdessen konnte ein Autor der Wirtschaftszeitung kürzlich auf einer ganzen Seite darlegen, warum Europa „keine Arbeitsnomaden“ mehr braucht: Die niedrige Geburtenrate, mit der in Frankreich und Deutschland die Notwendigkeit eines Migrationsgesetzes für ausländische Arbeitnehmer begründet worden sei, ließe sich schließlich auch wieder anheben.

Keine Kritik an Serbien

Auch in der tschechischen Außenpolitik ist keine klare „pro-atlantische“ Linie zu erkennen. Mit dem Blick auf den nahen Balkan beklagt Prag einerseits, daß das Land sich in einem sicherheitspolitischen Vakuum befände, solange eine Mitgliedschaft in der NATO nicht ermöglicht werde. Andererseits hat sich aber bisher allein Václav Havel für ein stärkeres Engagement der tschechischen Armee in Bosnien auch unter NATO-Kommando ausgesprochen. Die Regierung verwies dagegen nicht nur darauf, daß eine Zusammenharbeit aus „technischen Gründen“ nicht möglich sei. Zugleich bezweifelte Ministerpräsident Václav Klaus auch die „Alleinschuld der Serben“. Der Kommentator der Wochenzeitung Respekt, Zbyněk Petraček, erklärte dies mit dem „stärksten tschechischen Konsens“: Da der Nachkriegsstatus Europas nicht angezweifelt werden dürfe, verbiete sich für die Politiker jede Kritik der „ethnischen Säuberungen“. Dann müßten sie nämlich auch die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem 2. Weltkrieg verurteilen.

Eine eindeutig prowestliche Orientierung zeigt sich so allein am Beispiel der Beziehungen zur Slowakei. Fünf Monate nach der Teilung der ČSFR wird nur noch bei Sportveranstaltungen deutlich, daß die tschechoslowakische Föderation je existiert hat. Während sich Tschechen und Slowaken gemeinsam um die Teilnahme bei der Fußball-Weltmeisterschaft bewerben, ist das politische Geschehen des Nachbarlandes in die Kurzmeldungsspalten gerutscht. Während man heute im Prager Zentrum an jeder Straßenecke deutsche oder englische Zeitungen kaufen kann, gestaltet sich die Suche nach einem aktuellen slowakischen Blatt zum Marathon. Lediglich den Verhandlungen über die Aufteilung des föderalen Besitzes widmen die tschechischen Journalisten seitenlange Analysen.

Die noch existierenden tschecho-slowakischen Beziehungen werden so – nicht zuletzt durch eine Verringerung der Zugverbindungen – weiter beschränkt. Schon heute ist es mehr als nur wahrscheinlich, daß am Grenzfluß Morava der neue Eiserne Vorhang Europas errichtet werden wird. Die Tschechische Republik plant die Visapflicht für BürgerInnen mehrerer Republiken Ex-Jugoslawiens, der ehemaligen Sowjetunion und Rumäniens, die Slowakei kann sich dagegen eine Schließung der Grenze zum Nachbarland Ukraine aus ökonomischen Gründen nicht leisten. Ein Rückführvertrag für über Ungarn einreisende Flüchtlinge wird wegen ungelöster ungarisch-slowakischer Minderheitenpobleme verhindert. Einhalt gebieten wird dieser Entwicklung schließlich auch die ökonomische Verflechtung der beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei nicht. Da bereits in den ersten drei Monaten dieses Jahres der Handel um 50 Prozent zurückgegangen ist, halten die tschechischen Betriebe längst nach neuen Abnehmern im Westen Ausschau.

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