: Augenreiben im goldenen Westen
Die Reaktionen auf die Schließung der Berliner Staatsbühnen sind einhellig und entlarvend ■ Von Klaudia Brunst
„Attentat“ titelte der Berliner Tagesspiegel am Tag nach der Entscheidung; für eine „unverzeihliche Barbarei“ hält sie der Präsident des Goethe-Instituts Hilmar Hoffmann, und die Berliner FDP spricht von einem „kulturpolitischen Skandal“. Mit harscher Kritik kommentiert die deutsche Kulturnation die Schließung der „Staatlichen Bühnen Berlin“.
Nicht alle, die jetzt so lautstark für den Erhalt des Theaters eintreten, können es in den letzten Jahren regelmäßig besucht haben: Seit Jahren spielte man im Schiller Theater, der mit 1.200 Plätzen größten Bühne Deutschlands, vor leeren Rängen. Die Auslastungszahlen von an sich schon mäßigen 55 Prozent sind das Ergebnis handfester Beschönigungen. Erst vor kurzem wurde das Parkett um 100 Plätze verkleinert, der Rang mit seinen 300 Sesseln ist schon lange gesperrt, ohne daß dafür bauliche Gründe vorliegen, und für die nächste Spielzeit hatte Intendant Volkmar Clauß eine weitere Dezimierung des Platzangebots geplant. Das Flaggschiff des Berliner Bildungsbürgertums ist schon lange ein abgewrackter Kahn: ohne klare Route, ohne Passagiere, ohne Fortune.
Doch die, die sich jetzt für den Erhalt der Staatlichen Bühnen Berlin stark machen, interessieren sich gar nicht wirklich für die in den letzten beiden Jahrzehnten nur mäßigen künstlerischen Leistungen, auch nicht für die mageren Auslastungszahlen oder die dafür um so üppigeren Subventionsmillionen. Wenn der Berliner Theaterkritiker Günther Rühle jetzt von einem „Kahlschlag für den Berliner Westen“ spricht und theatralisch an die lange Tradition des Schiller Theaters erinnert, zeigt das vor allem, wie sehr er die Zeichen der Zeit ignoriert.
Die Staatlichen Bühnen, nach dem Krieg ein West-Bollwerk gegen den sozialistischen Osten, waren in ihren Gründungsjahren ein Instrument des Kalten Krieges, eine theatrale Stimme der freien Welt. Als solche wollen die Rühles und Hoffmanns sie weiter im Gedächtnis behalten, deshalb soll mit der Schließung der maroden Bühne jetzt angeblich Verödung drohen, wo die Schaubühne, das Theater des Westens und das Hebbeltheater immer noch um die Ecke liegen.
Drei Jahre nach der Vereinigung trifft es nun plötzlich auch die Hochkultur. Mit einem Paukenschlag hat der Berliner Kultursenator das westdeutsche Bildungsbürgertum aus seinem Dornröschenschlaf gerissen, noch nicht ganz wach, reibt es sich nun die Augen und kann nicht glauben, was es da sieht: Nicht mehr nur die Industriekombinate in Halle werden Opfer der Vereinigung, nicht mehr nur die Werften in Rostock werden abgewickelt, jetzt ist auch das kulturelle Establishment in der Finanznot vereinigt.
Die Krise war lange schon absehbar, der Staat ist gesamtdeutsch pleite. Nur bisher mußten immer die anderen – die Ostler, die Arbeiter, die Wohnungslosen – ihren Gürtel enger schnallen. Sicher, in Anklam schließen sie vielleicht ein Theater, in Rostock geht es womöglich ans Eingemachte. Aber im goldenen Westen war die Welt bis zum Dienstag noch in Ordnung. Unfreiwillig hat der Berliner Kultursenator nun ein unübersehbares Zeichen gesetzt: Mit der Schließung des teuersten Theaters Deutschlands hat er unmißverständlich signalisiert, daß das Umdenken auch nicht vor den Hochburgen bürgerlicher Westkultur haltmachen kann. Viel zu spät und erschreckend abrupt mußte die Kulturpolitik eine neue – preiswertere – Richtung einschlagen. Die Strukturreformen, mit denen der Berliner Kultursenator, Herr über 21 Sprechbühnen, drei Opernhäuser und drei Orchester, die Theaterlandschaft mittelfristig auf eine kostengünstigere, weil privatwirtschaftlich orientierte Basis stellen wollte, kommen nicht mehr rechtzeitig, um das Theatersterben zu verhindern.
Und auch wenn er es gerne glauben möchte: Selbst mit der Schließung seiner teuersten und ineffizientesten Bühne hat Roloff-Momin die verbleibenden Theater nicht wirklich winterfest machen können. Die Berliner Bühnen müssen nach Maßgabe der Strukturreform jetzt marktwirtschaftlich agieren. Das bringt ihnen einerseits mehr Handlungsspielraum im künstlerischen wie wirtschaftlichen Bereich, andererseits müssen sie sich jetzt einem harten Wettbewerb untereinander stellen. Und das in einer Zeit, wo das Kulturangebot insgesamt größer werden wird, ohne daß die Zuschauer mehr werden.
Schon jetzt drängen die kommerziellen Kulturanbieter mit ihren Musicals und Boulevard-Komödien auf den hiesigen Kulturmarkt, um mit straff durchorganiserten Tingeltangel-Produktionen Kasse zu machen. Geduldig warten sie darauf, daß die großen Sprechbühnen ihr Parkett nicht mehr füllen können, denn sie schmücken ihr seichtes Unterhaltungsangebot nur allzu gerne mit dem traditionsreichen Namen eines ehemaligen Staatstheaters. Deshalb hat sich der Musical-Zar Friedrich Kurz in die Berliner Freie Volksbühne eingekauft – ab Herbst wird er dort täglich „Shakespeare & Rock'n'Roll“ spielen – und deshalb hat Roloff-Momin schon drei Tage nach dem Bekanntwerden der Schließung für das Schiller Theater fünf privatwirtschaftliche Betreiberangebote. Die Staatsschauspiele passen sich dem – nun auch strukturell verordneten – Wettbewerbsdruck an: Thomas Langhoff verlegt sich in seinem Deutschen Theater bereits auf den klassischen „Biberpelz“, um sein Haus zur gewünschten Auslastung zu bringen, und Frank Castorf bedient sein vorwiegend jugendliches Publikum mit 70er- Jahre-Avantgarde.
Wenn diese Entwicklung so weitergeht, werden wirkliche Innovationen demnächst – wenn überhaupt – nur noch in den Kammerspielen möglich sein, und nur unter der Voraussetzung, daß in den großen Häusern der „Sommernachtstraum“ läuft. Dem Theater droht, was den öffentlich- rechtlichen Fernsehanstalten in den letzten Jahren bereits passiert ist: In der Konkurrenz mit den privaten Anbietern könnten sie auf der Strecke bleiben. Angesichts der knapper werdenden Mittel der öffentlichen Hand müssen ARD und ZDF sich einem Kampf um die breite Publikumsgunst (und um die Werbeeinnahmen) stellen, anstatt sich als wirkliche Alternative zu den seichten Soap-operas zu profilieren.
Um den Theater diese Entwicklung zu ersparen, müßten sie so üppig subventioniert werden, daß sie frei agieren können. Das allein könnte die Hochkultur über die kommenden sieben mageren Jahre retten, nur so wäre der drohende Kahlschlag wirklich zu verhindern. Eine solche Alimentierung setzte aber angesichts der großen Geldknappheit einen wirklich deutlichen Einschnitt voraus: Nicht mehr 21, auch nicht mehr 19 Bühnen könnte sich Berlin dann leisten, sondern vielleicht neun oder zehn exquisit geführte Häuser. Solange aber die Bildungsbürger nicht begriffen haben, was die Uhr wirklich geschlagen hat, solange sie schon bei den vorsichtigen Einschnitten „Barbarei“ rufen, kann kein noch so weitsichtiger Kultursenator eine solche zukunftsorientierte Politik durchsetzen. Und so wird das Theatersterben wohl weitergehen.
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