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Wer so viel Wut zeigt, fühlt sich ertappt

Von der Schwierigkeit, Eltern das Problem „Kindheit heute“ zu vermitteln  ■ Aus Terracina Werner Raith

Maestra Florinda ist in jeder Hinsicht vorbereitet: An der Wand des Klassenzimmers hängen Bilder von armseligen, verdreckten Kindern und von kaum mehr als solche erkennbaren Leibern in Krankenhäusern. Die Kinder etwas weiter rechts sehen zwar nicht gerade sterbenselend, aber dennoch geplagt aus: Sie tragen schwere Lasten, laufen barfuß steinige Wege hoch, und einige haben über den Säcken auf ihrem Rücken auch Gewehre geschnallt. Auf einem Bildschirm ziehen tonlos fliehende Menschenkolonnen vorbei, im Vordergrund immer wieder Kinder.

Maestra Florinda hat die Abschlußklasse der Elementarschule zu ihren nun schon traditionellen „Missionstagen“ gerufen – ganze Nachmittage sitzen die Schüler der 5. Klasse da, schauen sich die Bilder an und werden dabei – mit sanfter Hilfe der Lehrerin – von einem großen Eifer gepackt: Sie organisieren Basare und verkaufen alte Comics-Hefte, bemalen Gläser und versteigern sie auf dem gerade begonnenen Kirchweihfest, bedrängen ihre Eltern um Geld für die Sammlung.

Das kommt zu Hause nicht immer gut an, und so hat Maestra Florinda diesmal auch die Eltern zu ihrem Missionstag geladen. Sie erklärt geduldig die Lage: „Wenn ihr euch die Bilder anseht, werdet ihr merken, daß diese Kinder weder schwarze noch rote, noch gelbe Hautfabre haben. Sie leben nicht in Afrika, sondern ganz nahe, nur ein paar hundert Kilometer von hier, in Bosnien und in Nagorni Karabach, und diese Kinder hier gar in unserem eigenen Land: Kinder, die für ihre Eltern auf der Straße betteln; Siebenjährige, die Drogen anbieten; andere, die Windschutzscheiben waschen und sich zur Prostitution anbieten.“

Im Raum ist es sehr ruhig geworden. Die Erwachsenen hat ein sprachloses Unbehagen ergriffen. „Das ist doch nicht repräsentativ für uns“, murrt nach einiger Zeit ein Vater, „so schlecht wie im Osten geht's bei uns niemandem.“ Und eine Mutter drängt sich ebenfalls am Thema vorbei: „Kann man diese Dinge bei uns wirklich mit den Greueln in Jugoslawien vergleichen?“ Maestra Florinda bombardiert – scheinbar auf die Frage eingehend – die Eltern zunächst mit abstrakten Zahlen: „In der EG leben mehr als dreihundert Millionen Menschen, in ganz Europa mehr als eine dreiviertel Milliarde. Gut ein Achtel davon sind Kinder unter 12 Jahren. Nach UNESCO- Berichten leben von diesen 70 Millionen europäischen Kindern fast 25 Millionen in Verhältnissen, die man nicht als adäquat bezeichnen kann.“

„Aber das sind doch vor allem die im Osten“, wendet der Vater erneut ein. Damit hat die Maestra gerechnet. „Sicher“, sagt sie, „Kinder des Krieges.“ Sie hat offenbar alles vorausgesehen: Leise läßt sie eine sentimentale Schallplatte – „Kinder des Krieges“ von Charles Aznavour – abspielen. „Das ist richtig“, fährt sie fort. „Doch die UNESCO verweist auch darauf, daß gerade in den reichen Staaten die Behandlung der Kinder zu einem hohen Prozentsatz nicht kindgemäß ist, ja oft regelrecht grausam und brutal.“ Dann liest sie aus einer Statistik vor: „Mehr als zehn Prozent aller Kinder in der EG müssen trotz des Verbots von Kinderarbeit Geld verdienen. In manchen EG-Ländern geben mehr als 15 Prozent aller Mädchen an, in ihrer Kindheit vom Vater sexuell bedrängt worden zu sein. In Gegenden Italiens und Spaniens ist jedes 25. Kind wegen Verletzungen durch seine Eltern in ärztlicher Behandlung. Deutschland hat mit die europaweit höchste Suizid- und Suizidversuchsrate unter Kindern, und die Experten führen das auf den enormen Leistungsdruck zurück, den Eltern wie Schule ausüben. Mittlerweile holt aber auch Italien, das allgemein als das kindernärrischste Volk Europas gilt, langsam auf. Hier vermuten die Experten das Gegenteil der deutschen Erfahrung als Grund: eine geradezu hanebüchene Verzärtelung in den ersten Jahren, die die Kinder dann völlig lebensuntauglich macht. Wenn dann als Erziehungsmittel Liebesentzug eingesetzt wird, bricht die Welt für diese Kinder zusammen, sie verwahrlosen innerlich.“

Florinda erkennt, daß sie bei den Eltern nicht ankommt – vielleicht war es auch kein Geniestreich, derlei vor den Kindern auszusprechen. Zwar wagt keines der Kinder, seine eigenen Erfahrungen darzustellen, doch viele der Erlebnisse, die sie angeblich von FreundInnen gehört haben, stammen sicherlich aus der eigenen Geschichte: unverständliche Strafen, überharte körperliche Züchtigung, Willkür. Und dann spricht ein Mädchen einen Satz aus, der die Stimmung explodieren läßt: „Dann dürfen sich die Eltern nicht wundern, wenn Kinder grausam zu Tieren und zu anderen Kindern sind.“ Die Maestra bekommt knüppeldicke Vorwürfe: Sie entfremde die Kinder ihren Eltern; das sei kein Missionstag, sondern Aufwiegelung.

Am Ende steht sie mit vier Kindern und zwei Elternteilen da. Der Missionstag ist gründlich gescheitert, so scheint es. Aber Florinda ist zuversichtlich. „Es wird wirken, glaubt mir. Wer so viel Wut zeigt, fühlt sich ertappt. Die Leute müssen lernen, Bosnien im eigenen Haus zu entdecken. Dann erst kommt das wirkliche Nachdenken darüber, was Kindheit eigentlich bedeuten könnte – und was es in unserer Welt leider bedeutet.“

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