: Ostdeutsche schlucken mehr Tabletten
■ Bilanz über Arzneimittelverbrauch nach einem halben Jahr Gesundheitsreform
Berlin (taz) – Seit dem Inkrafttreten der Gesundheitsreform verordnen Ärzte deutlich weniger umstrittene Arzneimittel, d.h. Präparate, deren Wirkung fragwürdig ist. Und sie greifen stärker auf Generika zurück, also auf „Nachahmerprodukte“, die billiger, in der Regel nicht aber schlechter sind als die Originalmedikamente. Notwendige Medikamente würden jedoch weiterhin verordnet. Diese Bilanz zog der Arzneimittelfachmann des AOK-Bundesverbandes, Norbert Schleert, nach einem halben Jahr Erfahrung mit der Gesundheitsreform bei einem Pressegespräch in Berlin.
Die Zahl der Verordnungen ging bei den umstrittenen Medikamenten zum Teil erheblich zurück, wie eine Untersuchung des Wissenschaftlichen Institutes der Ortskrankenkassen (Wido) ergab. So wurden im ersten Quartal 1993 26,3 Prozent weniger Vitamine und 28,3 Prozent weniger Mineralstoffpräparate wie Calcium oder Eisen verschrieben. Bei durchblutungsfördernden Mitteln betrug der Rückgang 31,7 Prozent und bei Venentherapeutika 40,1 Prozent. Allerdings nimmt die Zahl der Verschreibungen im Verlauf der letzten drei Monate wieder zu.
Bisher seien diese Medikamente zum Teil etwas großzügig verordnet worden, meinte Nanna Junge, Beratungsapothekerin der AOK in Rostock. „Das einzige, was bei Venenschwäche wirklich hilft, sind Kompressionsstrümpfe“, meinte sie.
Im Januar war die Zahl der Verordnungen zunächst um ein Viertel zurückgegangen, was zum Teil auf Vorzieheffekte zurückzuführen war, zum Teil aber auch auf die Angst der ÄrztInnen, das Arzneimittelbudget von 24 Milliarden Mark für 1993 zu überschreiten. Inzwischen steigt die Zahl der verschriebenen Medikamente wieder und lag im März 1993 nur noch 6,9 Prozent unter dem Vorjahreswert.
Schon im vergangenen Jahr schluckten Ostdeutsche mehr und teurere Medikamente als Westdeutsche – ein Trend, der sich auch in diesem Jahr fortsetzt. Nanna Junge führte dies zum Teil auf Nachholeffekte zurück, die mittelfristig rückläufig sein dürften. Starke Zuwächse haben im Osten sowohl neuentwickelte Medikamente als auch umstrittene Präparate, die früher nicht verfügbar waren und jetzt ausprobiert werden. Immer mehr PatientInnen stiegen auf Westprodukte um, was nicht immer begründet sei. So sei es nicht gerechtfertigt, statt einem billigeren Ostprodukt ein Westmedikament zu verschreiben, das trotz gleicher Inhaltsstoffe teurer sei.
Ab Januar 1994 wird auch in den neuen Ländern ein Arzneimittelbudget eingeführt, bei dessen Überschreitung die Ärzte kollektiv zur Kasse gebeten werden. Das bedeutet, das auch Röntgenärzte, die gar keine Medikamente verschreiben, mithaften. Für die Ärzteschaft ist es daher von Interesse, möglichst bald zur Individualhaftung übergehen zu können.
Möglich wird dies durch sogenannte Richtgrößen, die durchschnittliche Behandlungskosten für jedes Krankheitsbild festlegen. Dorothee Winden
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