■ Der ganze Mittlere Westen der USA ertrinkt im Regen
: Zum Angeln in die Main-Street

So könnte die Geschichte später einmal erzählt werden: Es waren einmal zwei Städte am Mississippi, Dubuque und Davenport. Erstere investierte 1965 die vergleichsweise lächerliche Summe von einer Million Dollar und baute sich eine Schutzmauer gegen „Ol' Man River“, letztere lehnte ein solches Ansinnen hartnäckig ab, weil es die historische Uferpromenade verschandelt hätte. Heute kann man im Baseballstadion von Dubuque Baseball spielen, im Baseballstadion von Davenport hingegen Schlauchboot fahren. Es steht ebenso unter Wasser wie die gesamte Innenstadt.

Die Regenfälle der letzten Wochen im Mittleren Westen der USA als heftig zu bezeichnen wäre eine Untertreibung. Die Fluten aus dem Himmel haben den Missouri und den Mississippi von Minnesota bis zum US-Bundesstaat Missouri über die Ufer treten lassen. Mindestens 22 Menschen starben in den Überschwemmungen, über 30.000 mußten bislang evakuiert werden. Die Ernte der Farmer in den umliegenden Agrarstaaten ist buchstäblich versunken, der Schaden wird vorläufig auf zwei Milliarden Dollar geschätzt. Rund 300 Gemeinden sind inzwischen zum Katastrophengebiet erklärt worden und haben damit Anspruch auf Soforthilfe des Bundes.

Wer am Samstag auf Kansas City's Southwest Boulevard einkaufen wollte, brauchte zumindest den Freischwimmer und einen Schnorchel: Die Geschäfte standen bis zu 1.80 Meter unter Wasser. Auch Städte, die Hunderte von Kilometern vom größten Fluß in den USA entfernt liegen, melden Land unter — zuletzt Des Moines im Bundesstaat Iowa. Allen Hoffnungen und Sandsäcken zum Trotz traten dort am Sonntag der Des-Moines-Fluß und der Raccoon-Fluß über die Ufer, und legten vorläufig die Trinkwasser- sowie teilweise die Stromversorgung für die rund 300.000 Einwohner lahm. Während die „National Guard“ und das „Army Corps of Engineers“, in den USA zuständig für den Bau von Schutzdämmen, mit Evakuierungen, Wasserversorgung und medizinischen Notdiensten vollauf beschäftigt sind, versucht die Zivilbevölkerung entweder, ihr Hab und Gut ins Trockene zu schaffen oder von öffentlichen Einrichtungen zu retten, was noch zu retten ist: In Des Moines schleppten fünfzig Freiwillige 20.000 Bücher der öffentlichen Bibliothek in höher gelegene Stockwerke, bevor der Lesesaal im Flutwasser versank. Inzwischen werden sogar die Insassen der umliegenden Strafanstalten zum Dammbau herangezogen.

Bei aller Verzweiflung haben sich so manche mit dem Leben in Atlantis gut abgefunden. Da wird auf der Main-Street zwischen Ampel und Busschild geangelt, während Kinder die Spielplätze zu Swimming-Pools und die Rutschen zu Sprungbrettern umfunktioniert haben. In Alton, Illinois, lassen die Betreiber eines der zahlreichen Casino-Schiffe nichts unversucht, um ihre Gäste trotz Flut weiterhin mit trockenen Füßen an Bord zu bringen. Die sind überglücklich, können sie doch beim Roulette, Poker oder am einarmigen Banditen vergessen, daß zu Hause die Videokassetten zwanzig Zentimeter über der Auslegware schwimmen. Wer noch einen Fernseher besitzt und Zugang zu einer trockenen Steckdose hat, wird mit Neid und Sehnsucht die TV-Berichte von der Hitzewelle verfolgen, die zur gleichen Zeit die gesamte Ostküste der USA heimsucht. (Umgekehrt werden sich so manche in New York wünschen, mit dem Paddelboot über die Fifth Avenue zu schippern.) Doch solche Halluzinationen helfen wenig. Zwar haben die Meteorologen für das Wochenende trockenere Tage im Mittleren Westen und kühlere an der Ostküste angekündigt, doch bis die Keller leergeschöpft sind, wird noch einige Zeit vergehen.

Dann erst wird man Zeit haben, darüber nachzudenken, was eigentlich mit dem Wetter los ist. Schon letztes Jahr verzeichneten die Meteorologen eine Rekordzahl von 1.381 Tornados. Ende März dieses Jahres wurde die ganze Ostküste mit einem gewaltigen Blizzard überzogen, den Fachleute in die Rubrik „außertropischer Zyklon“ einordneten. „Außertropisch“ bedeutete in diesem Fall über einen Meter Neuschnee. Florida hat sich bis heute nicht vom „Hurricane Andrew“ erholt. Die einen machen für das meteorologische Chaos die 20 Millionen Tonnen Schwefeldioxid verantwortlich, die vor zwei Jahren der Vulkan Mount Pinatubo in die Stratosphäre spie; andere vermuten die Ursache für Flut, Hitzewelle und Juli-Schnee in Colorado in einer gigantischen Ansammlung warmen Wassers im Pazifik, das seit zwei Jahren die Wettersysteme durcheinander wirbelt. Die These, daß auch der Treibhauseffekt damit zu tun haben könnte, will allerdings niemand unterschreiben — schließlich hat es das alles in diesem Jahrhundert schon mal gegeben: Hurrikanes à la Andrew, Schneeblizzards im Frühling, Hitzewellen zum Umfallen. Der Mississippi ist auch nicht zum ersten Mal übergetreten — auch wenn er in der Stadt Davenport einen neuen Wasserstandrekord aufgestellt hat.

Jetzt kann man den Einwohnern nur wünschen, daß sie dieses Jahr von Tornados verschont bleiben. Wenn nicht, sollen sie wenigstens ein wenig Glück im Unglück haben, so wie irgendwann in den 50er Jahren die Bewohner einer Kleinstadt irgendwo im Süden der USA. Da war ein Tornado zuvor über einen nahegelegenen See gefegt, bevor er auf die Ansammlung von Einfamilienhäusern zufegte. Da soll es dann Fische geregnet haben. Andrea Böhm