: Die letzte Stunde
Das Schweigen filmen: Ingmar Bergman wird 75 ■ Von Mariam Niroumand
Einem seiner Biographen hat Ingmar Bergman eine Kindheitserinnerung erzählt. Vor seinem Fenster wehte ein Vorhang, auf dem „keine kleinen Männer oder Tiere zu sehen waren, oder Köpfe oder Gesichter, sondern etwas, für das es keine Wörter gab. In der Dunkelheit krochen sie aus den Falten und bewegten sich auf den grünen Lampenschirm zu, oder auf den Tisch mit der Wasserkaraffe. Sie verschwanden nur, wenn es wirklich dunkel oder ganz hell wurde, oder wenn der Schlaf kam.“
Bergmans Alp, ein Verwandter von Benjamins bucklicht' Männlein oder Munchs Totentänzern, ist durch menschliche Gesellschaft nicht zu bezähmen. Tosende Stille bricht über die Protagonisten seiner Filme herein, während sie noch ihren Liebsten in die Augen schauen, ein Kind streicheln oder lachend ein Kostüm anprobieren.
Strindberg, Munch, die „Dreigroschenoper“, aber auch „Tannhäuser“ und die schwedische Exegese des Lutherischen Katechismus waren die ersten Ingredienzen von Bergmanns Imagination. Bilder vom Vater auf der Kanzel, von der heimlich lesenden Mutter, von den Nachbarn in Uppsala, die sich wie wahnsinnig im Walzer drehten, und von Frühstücksszenen mit frisch gewaschenem Haushaltsvorstand, der auf die goldene Taschenuhr schaute, während der Hirsebrei köchelte, sind in allen seinen Filmen zu finden, obwohl erst Bille Augusts „Die besten Absichten“ ihre Geschichte erzählte.
Bis ins sechzehnte Jahrhundert läßt sich Bergmans Abstammung von Pastoren und Bauern verfolgen; eine Geschichte des privaten Lebens würde sich an ihnen die Zähne ausbeißen: Beherrschung und Angemessenheit sollten es möglich machen, daß, wann immer die Tür aufgerissen wurde, die Außenwelt nur das Vorbildlichste zu sehen bekam. Berühmt geworden ist deshalb auch die schwarze Stunde, in der der achtjährige Bergman von der Großmutter in den Schrank geschlossen wurde und in seiner Panik ein Kleid der Mutter mit den Zähnen zerriß. Dann wieder die gemeinsamen Abende am Klavier, die Mitsommer-Sonnenwendfeste, die Laterna magica mit biblischen und pastoralen Szenen, das Puppentheater, von Kindern und Eltern zusammen bestaunt... Die Erzählungen der Schwester Margareta waren der von Karin Bergman ängstlich gehütete Glanz im protestantischen Winterschlaf. Wer sich an die Kinderzimmer-Episoden in „Fanny und Alexander“ erinnert, kommt der Vorstellung wohl ziemlich nah.
Im Sommer 1934 ging Ingmar im Rahmen eines Schüleraustausches nach Deutschland. Er hat über dreißig weitere Jahre gebraucht, um zugeben zu können, wie fasziniert er damals war, „Mein Kampf“ in der Schule, Wagners „Rienzi“ in der Oper, „Heil Hitler“ und Stiefeltritte auf der Straße... Er verliebte sich in eine Bankierstochter, Renata, aber ihre Briefe brachen plötzlich ab; von anderen hörte er, die Familie sei verschwunden. Es waren die Wochenschauberichte von der Befreiung der Konzentrationslager, die ihn spüren ließen, mit wem er geliebäugelt hatte. „Das Schlangenei“ (1977), Bergmans Pendant zu Pasolinis „Salo“ – sein mit Abstand erschreckendster Film –, zeugt von der unausweichlichen, vernichtenden Nähe, die er zwischen Täter und Opfer auszumachen glaubte. Berlin ist eine Mondlandschaft, kalt, steinern, dunkel; die Tatsache, daß der Film mit dem gescheiterten Putsch 1923 vor Stresemanns Amtsantritt endet, ändert nichts daran, daß die Höllenfahrt besiegelte Sache ist. Die Geschichte setzt sich, so scheint dieser Abbruch anzudeuten, hinter dem Rücken der Beteiligten durch; während sie die Demokratie noch für gerettet halten, ist ihre Erosion längst im Gange. Wie in „Cabaret“, „Salo“ oder „Die Verdammten“ ist der Faschismus auch bei Bergman eine endlose S/M-Kette, in der alle Beteiligten an beide Pole angeschlossen sind.
Vom Neorealismus zur Filmpoesie, vom Theater zum Kino zum Fernsehen und zurück, von mittelalterlichen Szenarios bis in die Fahrstühle der Großstadt reichen Bergmans Bilderwelten. Bekannt ist er natürlich vor allem durch die Liebesdramen, in deren „Schreien und Flüstern“ man versinkt wie im eigenen Tagebuch. Ein bißchen gnadenloser wollte er hinein in die Krisen seiner Protagonisten, in die „Szenen einer Ehe“ vor allem der offenbar mit einem Urschrei auf den Lippen geborenen Liv Ullmann, die jeder Nichtprotestant wohl unerträglich finden muß. Wie man sich in einem Frauenkörper fühlt, das scheint er irgendwoher gewußt zu haben; in „Wilde Erdbeeren“ spürt man die Nervosität in den Beinen der Protagonistin, die mit einem Mann im Auto sitzt, der zu alt für sie ist. Die Innenperspektive, an die er da geraten ist, Erfahrung von Frauen mit sich selbst, wird wohl mit den protestantischen Frauenbiographien, denen sie entlehnt ist, verschwinden. Einstweilen sind seine Schneeträume noch präsent wie dem Analysanden die letzte Behandlung.
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