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Ohne Hindernisse

■ Eine Selbsthilfegruppe in der österreichischen Oststeiermarkfördert in einem Projekt den "Behinderten-Aktiv-Urlaub"

Manchmal sind fünf Zentimeter ein unüberwindbares Hindernis. Eine Kleinigkeit nur, aber eine Kleinigkeit zuviel. Im Alltag – und im Urlaub erst recht. Ist schon die Organisation von Reisen für Rollstuhlfahrer ein Unternehmen mit Hindernissen, entpuppt sich das gebuchte Quartier oft als Reinfall.

Diese leidvolle Erfahrung kennen auch die Mitglieder der Behinderten-Selbsthilfegruppe (BSG) in Hartberg, einer Kleinstadt in der österreichischen Oststeiermark. Sie beließen es aber nicht beim Wehklagen, sondern gründeten im Jahr 1989 wurden selbst aktiv: Im Jahr 1989 starteten das Projekt „Behinderten-Aktiv-Urlaub Hartberg“: Ein maßgeschneidertes Urlaubsangebot für körperlich behinderte Feriengäste im Bezirk Hartberg. Das angepeilte Ziel war, zusammen mit den Vermietern, der Gemeinde und den Sport- und Freizeiteinrichtungen, das gesamte Umfeld behindertenfreundlich zu gestalten. Unterstützt wurde das Projekt von der ÖAR-Regionalberatung in Person des Tourismusberaters Franz Handler.

Das A und O für Behinderte sind die Unterkünfte. Hapert es schon da, scheitert meist der ganze Urlaub. Hier setzte die BSG an und checkte von 250 angeschriebenen Beherbergungsbetrieben 25 interessierte mit einem 29-Punkte- „Anforderungskatalog für ein behindertengerechtes Bauen und Wohnen“.

Geprüft wurden nicht nur die architektonische Gegebenheiten, sondern auch die persönliche Einstellung der Vermieter zu Behinderten. „Dabei ist uns manchmal das große Grausen gekommen“, erzählt Obfrau Anneliese Gigler, die seit ihrer Geburt im Rollstuhl sitzt. „Einige zeigten offen nazistisches Denken, andere wollten nur wegen des Geldes mitmachen.“ 18 behindertengerechte Unterkünfte blieben übrig.

Doch der Projektansatz der BSG geht weiter, ist nach ihrer Kenntnis gar einzigartig in Europa: Behinderte Urlauber werden von den Behinderten beraten, vermittelt und vor Ort betreut, von Menschen also, die sehr genau wissen, worüber sie reden. Leo Pürrer managt das Büro der Gruppe. Seit seinem 17. Lebensjahr – damals wurde er als Beifahrer beim Autounfall querschnittsgelähmt – sitzt der heute 27jährige im Rollstuhl. „Ich kenne alle Hotels, Betriebe, und Freizeiteinrichtungen“, erzählt er. Deshalb frage er die Anrufer zuerst nach der Art ihrer Behinderung. Dann könne er ihnen geeignete Häuser gezielt anbieten.

Alle behinderten Urlaubsgäste, ob Einzelreisende oder Gruppen, werden nach ihrer Ankunft in Hartberg von Pürrer persönlich aufgesucht. Heute ist er in den Gasthof Schöngrundner nach Grafendorf rausgefahren, um die Gruppe vom „Betreuungszentrum Steinhöring“ bei München, sieben Behinderte (darunter zwei Rollstuhlfahrer) und zwei Betreuer, zu begrüßen. Er fragt, ob es Beschwerden gebe, bietet Tagesausflüge nach Graz oder zu den Thermalbädern an und informiert über die Arbeit der Selbsthilfegruppe. Die Erzieherin des Zentrums, Anna-Maria Bauer, hat schon bemerkt, daß das Bewußtsein der Leute im Hartberger Land anders ist. „Die Leute hier sind schon auf Behinderte eingestellt, die Schwelle ist nicht mehr so hoch.“

Hartberg liegt eingebettet in einer sanft hügeligen Landschaft. Die Landwirtschaft ist kleinstrukturiert, 90 Prozent der Bauern haben unter 20 Hektar. Entsprechend zersiedelt ist das Land. Die fünf ärmsten Gemeinden Österreichs konzentrieren sich hier. Die Leute müssen nach Wien oder Graz zur Arbeit pendeln. In den sechziger Jahren beliebte Sommerfrische der Wiener, kommen die heutigen Gäste heute wegen der Thermen zum Gesundheitsuralub. zum Gesundheitsurlaub.

Über den Umgang mit den Behörden im Bezirk kann die Obfrau der BSG, Anneliese Gigler, so manch garstig Lied singen. So weigerte sich der Sozialreferent des Bezirks lange hartnäckig, mit den Betroffenen überhaupt Gespräche zu führen. Und der Geschäftsführer des Tourismusverbands Hartberger Land kanzelte damals das Urlaubsprojekt als Flause ab, aus der sowieso nichts werde. Dahinter stand die Angst, weiß Gigler, daß Hartberg zum „Behinderten-Urlaubsbezirk“ wird, was dem Tourismus gar nicht gut täte. „Dabei wollen wir gerade keine neue Ghettoisierung.“ Manche der Hotels und Pensionen böten deshalb gerade mal zwei oder vier „rollstuhlgerechte Betten“ von zwanzig an.

Inzwischen ist der Kampf um die Anerkennung ausgestanden und der „Behinderten-Aktiv-Urlaub“ auch im touristischen Bezirksprospekt vertreten. Alle neuen öffentlichen Bauvorhaben werden von der Gemeinde mit der BSG abgestimmt, um das Umfeld weiter in Richtung Behindertenfreundlichkeit zu ebnen. „Nächstes Jahr machen wir einen Aktionstag. Da binden wir die Politiker, Architekten und Geschäftsleute im Rollstuhl fest und lassen sie die Barrieren, die sie gebaut haben, selber fahren“ freut sich Anneliese Gigler schon heute.

Von 1989 bis Anfang 1993 hat die Gruppe insgesamt 14.000 Nächtigungen vermittelt. Tendenz steigend. Für die strukturschwache Region durchaus ein wirtschaftlicher Impuls. Um nicht gewerberechtlich belangt zu werden, gründete der Verein im Mai das eigene Reisebüro „BSG Spezial-Tours“. Günter Ermlich

Kontakt: Informationsbüro

Behinderten-Aktiv-Urlaub,

A-8230 Hartberg, Preßlgasse 52,

Tel.: 0043/3332/65405.

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