: Der unfreundliche Riese
Unangefochten gewinnt der Spanier Miguel Induráin die 80. Tour de France und bringt die deklassierte Konkurrenz schwer ins Grübeln ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Wenige Sekunden, nachdem der Usbeke Dschamolidin Abduschaparow als letzter Etappensieger über die endgültige Ziellinie der 3.700 Kilometer langen 80. Tour de France gefegt war, kam gemütlich der absolute Triumphator dieser Frankreich- Rundfahrt herangerollt: Miguel Induráin, „der freundliche Riese“ (L'Equipe), der gerade seine dritte Tour in Folge gewonnen hatte. Der Sieg des mit höchster Eleganz die Pedale bewegenden Spaniers stand zu diesem Zeitpunkt längst fest, nur Sturz, Krankheit oder Attentat hätten dem 29jährigen noch einen Strich durch die Rechnung machen können.
Induráins überlegener Sieg beim Zeitfahren der 10. Etappe am Lac de Madine und das Pech seines ärgsten Rivalen Tony Rominger hatten früh die Weichen dieser Tour gestellt. Sowohl in den Alpen als auch in den Pyrenäen war Induráin nicht abzuhängen, obwohl die Veranstalter, um seine eher unfreundliche Überlegenheit zu mindern, eine Unmenge gemeinster Pässe ins Programm genommen hatten. Scheinbar locker ging er jedes Tempo mit, ob er in der Lage gewesen wäre, seinerseits die Konkurrenz stehen zu lassen, blieb ungeklärt. Er hatte es nicht nötig. Aber daß auch er, der sich, bescheiden wie immer, nicht mit den großen Radheroen Merckx oder Hinault vergleichen möchte, in den Bergen davonziehen kann, hatte er bei früheren Ausgaben der Tour bewiesen, etwa 1990, als er die Etappe nach Luz Ardiden gewann, oder 1991, als er gemeinsam mit Claudio Chiappucci in den Pyrenäen den Rest des Feldes abhängte und den Grundstein für seinen ersten Tour-Sieg legte. Das verlorene Zeitfahren am vorletzten Tag gegen Tony Rominger war nicht mehr als ein Schönheitsfehler. Zwar hätte Induráin nach eigenem Bekunden gern gewonnen, aber er brauchte den Sieg nicht mehr und ließ die letzte Konsequenz vermissen.
Noch bevor es in die Pyrenäen ging, hatten Leute wie Chiappucci und Rominger die 80. Tour abgehakt und schmiedeten bereits Pläne für die 81. im nächsten Jahr. Die schweizerische Presse, die in den Wochen vor dem Start nicht müde geworden war zu beweisen, warum Tony Rominger den spanischen „Marsmenschen“ (Chiappucci) diesmal schlagen würde, vollführte, während sich die Fahrer noch die Alpengipfel hinaufmühten, bereits einen eleganten Schlenker und ging daran zu erklären, warum Rominger im nächsten Jahr gewinnen werde. Mehr Glück ist eine Sache, eine veränderte Vorbereitung die andere. Und wie soll diese aussehen? Wie die von Miguel Induráin natürlich. Diesmal hatte sich Rominger nach dem Sieg in der Spanien-Rundfahrt vier Wochen lang in die Berge von Colorado zum Höhentraining zurückgezogen, im nächsten Jahr will er die Saison ruhig angehen, dann den Giro bestreiten, um bei der Tour seinen Formhöhepunkt zu erreichen. Den umgekehrten Weg gedenkt kurioserweise Induráin zu gehen. Er will 1994 endlich mal die Vuelta gewinnen.
Bei allem schweizerischen Optimismus drängt sich der Verdacht auf, daß Rominger die Chance seines Lebens bereits verpaßt hat. Er ist drei Jahre älter als Induráin und das Rad der Zeit dreht sich im Radsport schneller als anderswo. Die Beispiele von Greg LeMond, Gianni Bugno, Erik Breukink oder Laurent Fignon zeigen, daß es bei der heutigen Rasanz der großen Rundfahrten schwerer denn je ist mitzuhalten. „Die Rennen haben sich verändert“, sagt Fignon, der in den Pyrenäen aufgab und nach der Saison seine Karriere beenden will, „niemand spricht, niemand lacht, du hast keine Zeit, deine Essenstüte herauszuholen. Man kann nicht einmal pinkeln.“ Viele ältere Radprofis beklagen, daß die einstige verschworene und leicht schrullige Zunft der Pedaleure zu einem multinationalen Konglomerat von braven Interessenvertretern ihrer jeweiligen Unternehmen geworden ist.
Selbst die eigene Sprache, das spezielle Radler-Kauderwelsch, stirbt langsam aus. „Früher konnten wir uns unterhalten, ohne daß uns sonst jemand verstand“, erinnert sich Ex-Profi Raphael Geminiani. Der Baske Inaki Gaston hält dagegen: „Bei 50 Stundenkilometern, die wir in dieser Tour fahren, ist es angebracht, den Mund nur zum Atmen zu öffnen, nicht zum Quatschen.“
Gespannt darf man sein, was sich die Tour-Veranstalter für das nächste Jahr einfallen lassen, um Induráins Dominanz zu begegnen, nachdem es mit den Bergen nicht geklappt hat. „Ein Bergzeitfahren“, ruft wie jedes Jahr Claudio Chiappucci, der sich nach seinem Einbruch in den Alpen noch einmal mächtig steigerte und in den Pyrenäen zu großer Form auflief. Sollten die Tour-Planer diesmal auf ihn hören, könnte im nächsten Jahr wieder der zähe Kämpfer aus Uboldo zum hartnäckigsten Herausforderer des freundlichen Riesen werden, auch wenn der 30jährige während dieser Tour ein gehöriges Stück kleinlauter geworden ist. „Reden ist leicht“, hat er erkannt, „das kann jeder. Aber es sind die Beine, die das Fahrrad bewegen.“
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