: Kroatien fühlt sich von der Welt verlassen
Verstellter Blick auf ein kleines Land / Ein Embargo würde falsche Weichen stellen ■ Aus Split Erich Rathfelder
Wer die Politik Kroatiens beurteilen will, sollte sich fragen, was im eigenen Land in einer vergleichbaren Situation geschehen würde. Kroatien befindet sich seit zwei Jahren im Krieg, fast täglich werden Küstenstädte wie Zadar, Biograd oder Šibenik beschossen. Knapp ein Drittel des Landes ist von serbischen Einheiten besetzt, rund 400.000 kroatische Flüchtlinge dürfen nicht in ihre besetzten Städte und Dörfer zurück. Dazu haben die knapp fünf Millionen Einwohner des Landes fast 300.000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina aufgenommen.
Die ehemals zahlreichen Touristen bleiben aus, tägliche Stromsperren an der Küste verändern und erschweren den Tagesablauf, das Wirtschaftsleben liegt am Boden. Betriebe und Handwerk sind paralysiert, die Inflation frißt an den kargen Löhnen, die Kaufkraft der Durchschnittsbürger ist im Vergleich zum Vorkriegsstand bei zehn Prozent angelangt. Straßen und Eisenbahnlinien sind unterbrochen, ein großer Teil der männlichen Jugend dient in der kroatischen Armee. Die Zahl der Gefallenen und Verwundeten erhöht sich täglich, die Todesanzeigen in den Zeitungen erinnern an die jungen Leute, die gefallen sind. Kriegskrüppel gehören mittlerweile in Kroatien schon zum „normalen“ Straßenbild.
In fast jeder anderen Gesellschaft Europas wäre all dies mit einer politischen Radikalisierung verbunden. Führt in Deutschland allein schon der Zuwachs von Flüchtlingen aus anderen Ländern zu hysterischen Reaktionen großer Teile der Bevölkerung – in einer der reichsten Gesellschaften der Welt kommt es zu Terror und Gewalt gegenüber Ausländern –, so muß im gebeutelten Kroatien eher die Gelassenheit erstaunen, mit der die Situation gemeistert wird.
Hinzu kommt, daß sich nicht nur die bosnische, sondern auch die kroatische Bevölkerung von der Welt verlassen fühlt. Die in den von der jugo-serbischen Armee und serbischen Freischärlern eroberten Gebieten installierten UN-Truppen jedenfalls konnten oder wollten nichts dazu beitragen, die Bestimmungen des Vance- Friedensplanes für Kroatien zu erfüllen. Weder wurden die serbischen Freischärler entwaffnet, noch konnten die Vertriebenen zurückkehren. Der im März 1992 in Kraft getretene Vertrag ist somit Makulatur geblieben. Verständlich, daß der Wille, die verlorenen Gebiete mit Gewalt zurückzuerobern, in den letzten Monaten gewachsen ist.
Den Vorwurf, Kroatien entwickele sich zurück zum faschistischen Ustaschastaat des Zweiten Weltkrieges, findet nicht nur die breite Masse ungerecht. Selbst für die im Dauerclinch mit der Regierung liegenden kritischen Intellektuellen des Landes sind diese Vorwürfe eine Beleidigung. Ohne die Gefahr einer Rechtsentwicklung, die durch den Krieg und die Isolierung des Landes beschleunigt wird, herunterzuspielen, erinnern sie daran, daß die Ustaschadiktatur 1941–45 nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung getragen war. Die anfängliche Begeisterung über Gründung eines unabhängigen kroatischen Staates war nach der Installierung der Pavelić-Diktatur 1941 schnell verflogen. Angesichts der Verbrechen des Regimes gegen die serbische Minderheit und die jüdischen Kroaten traten viele der Widerstandsbewegung Titos bei. Der kroatische Widerstand konnte sich durchaus in Umfang und Effektivität mit Widerstandsbewegungen in anderen von Nazi-Deutschland besetzten Ländern messen.
Doch solche Argumente scheinen in Europa kaum durchzudringen. Selbst die deutsche Öffentlichkeit tut sich schwer, die „Danke Deutschland“-Rufe nach der diplomatischen Anerkennung im Januar 1992 in ihrem Kontext zu begreifen. Sie klingen in deutschen Ohren wohl nicht nach aufrichtiger Dankbarkeit eines Volkes, das sich seit der Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen im Jahre 1918, des späteren Jugoslawiens, des serbischen Expansionismus zu erwehren hat, sondern als die Rufe eines „Bündnispartners“ aus alten, längst überwunden geglaubten Zeiten. Informationen über eine neue „Ustascha“ oder die „Partei des Rechts“ des Dobrislav Paraga werden folgerichtig aufgebauscht und aufgesogen, da sie das gewünschte Bild, nach dem das heutige Kroatien schon fast ein faschistischer Ustaschastaat sei, bestätigen.
In Wirklichkeit ist Kroatien nichts weiter als ein kleines Land, das, mitten im Krieg, den Umbruch vom Sozialismus zu Kapitalismus und Demokratie zu bewältigen hat. Das geht nicht ohne Brüche, Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten, Repression und Korruption ab. Die an der Macht befindliche „Kroatisch-Demokratische Gemeinschaft“ (HDZ) des Franjo Tudjman nutzt ihren Einfluß ungeniert aus. HDZ-Mitglieder werden oftmals unabhängig von ihrer Qualifikation mit Posten und Privilegien bedacht. Die neue – zum Teil alte, um 180 Grad gewendete – Elite ist nicht gerade zimperlich, wenn es darum geht, das gesellschaftliche Eigentum in ihre Hände zu privatisieren.
Auch manche Exilkroaten, die mit wohlgefüllten Taschen aus den USA, Kanada, Australien und Deutschland nach Hause drängen, unterstützen nicht nur selbstlos die „Nation“, sondern kaufen Häuser, Grund, Fabriken, Hotels und Restaurants. Währenddessen verlieren nicht nur die Kriegsopfer fast alles, was sie einst besaßen. Die ArbeiterInnen und Angestellten müssen in mehrfacher Weise den Kopf hinhalten: als Gehaltsempfänger mit umgerechnet rund 100 Mark im Monat, als Soldaten, die ihr Leben riskieren, oder als Arbeitslose.
Angesichts dieser Lage ist es fast ein Wunder, daß die Gesellschaft nicht völlig aus den Fugen geraten ist. Die demokratische Opposition hat nicht unerheblichen Zulauf, nach neuesten Umfragen liegen die „Liberalen“ des Dražen Budiša mit weit über 30 Prozent der Stimmen vor der Tudjman- Partei. Zusammen mit den nun sozialdemokratisch auftretenden ehemaligen Kommunisten, der „Volkspartei“ der Savka Dapčević-Kučar, der „Bauernpartei“, den „Sozialdemokraten“ des Branko Horvat und den Regionalparteien in Istrien und Dalmatien ist ein demokratisches Oppositionsspektrum entstanden, das über 60 Prozent der Bevölkerung repräsentiert.
Die als rechtsradikal eingestufte „Partei des Rechts“ (HSP) des Dobrislav Paraga dagegen kommt kaum über fünf Prozent hinaus, hat also vergleichsweise weit weniger Zulauf als die „Republikaner“ Schönhubers in Deutschland oder die Partei Le Pens in Frankreich haben. Angesichts dieser Tatsachen entpuppt sich der Vorwurf, die kroatische Gesellschaft sei faschistisch, als ziemlich absurd. Eine Nation, die in einer extremen Krisenlage so reagiert, wie die kroatische es tut, hat diesen Vorwurf nicht verdient.
Der Versuch, den kroatischen Präsidenten Tudjman und den serbischen Präsidenten Milošević auf eine Stufe zu stellen, ist durch ideologisch-historische Vorurteile geprägt. In der Tat führt Slobodan Milošević in Serbien eine kommunistisch-faschistische Koalition an, die seit den Wahlen im Dezember 1992 über 70 Prozent der Stimmen und Sitze im restjugoslawischen Parlament verfügt und sich in dem Kriegsziel, mit allen Mitteln ein Großserbien zu schaffen, einig ist. Gradmesser der politischen Kultur Serbiens ist, daß ein erwiesener Massenmörder und Krimineller wie der Milizenführer Arkan als Abgeordneter einer von ihm selbst gegründeten Partei im Parlament respektvoll behandelt wird. Der serbische Nationalismus trägt heute „national-sozialistische“ Züge. Die Kriegsziele sind genannt, die Mittel werden nicht verschwiegen. Die Blutspur der serbischen Milizen in Kroatien und Bosnien ist nicht mehr zu verwischen. Und wie mit der serbischen Opposition umgesprungen wird, beweist nicht zuletzt der Fall Vuk und Danica Drašković.
Sicherlich liebt Franjo Tudjman, der ehemals jüngste Partisanengeneral Titos, den Pomp, die große Geste, das Privatflugzeug, die Privatjacht, das Tito-ähnliche Gehabe bei Staatsempfängen im Königsschloß auf der Adriainsel Brioni. Seine Großmannssucht charakterisiert vielleicht sogar in gewisser Weise den kroatischen Nationalismus im allgemeinen. Es ist die zu groß geratene Pose einer zu kurz gekommenen Nation, die sich mit Flaggen und Symbolen ihrer geschichtlichen Bedeutung zu vergewissern sucht. Es ist eine aus dem Unterlegenheitsgefühl gewachsene Selbsterhöhung, die oftmals skurrile Züge trägt.
Doch Tudjman ist kein Massenmörder oder Kriegstreiber vom Kaliber eines Milošević. Er ist ein kroatischer Nationalist, dem es gelungen ist, mit der Unterstützung des Exils die Macht im Staate zu ergreifen und das Land in die – amputierte – Unabhängigkeit zu führen. Daß sein Bewußtsein und seine Politik totalitäre Züge haben, wird nicht zuletzt in Kroatien selbst kritisiert.
Dies fällt zwar um so schwerer, seit es der Regierung gelungen ist, ihren Einfluß auf die Massenmedien, vor allem die elektronischen, auszudehnen. Es ist jedoch keineswegs eine allumfassende Zensur entstanden, eher ein vorauseilender Gehorsam gewendeter Journalisten. Die Kritik an der Regierungspolitik dringt noch durch, in letzter Zeit scheint sich gar eine Tendenzwende in allen Medien abzuzeichnen. Ferment dafür sind die privatkapitalistisch geführten Blätter wie Globus oder Feral Tribune. Die breite, von allen Oppositionsparteien getragene Kritik an der Bosnienpolitik und die schwindende Popularität Tudjmans sind ein Beleg dafür.
Und keineswegs verstummt ist die Kritik an der Rhetorik Tudjmans gegenüber der serbischen Minderheit im Lande. Immer wieder wird von linksdemokratischen Oppositionspolitikern beklagt, daß Tudjman vor Ausbruch des Krieges die Chance leichtfertig vergeben habe, mit den serbischen Bürgern des Staates einen historischen Kompromiß zu formulieren. Anstatt die Ängste der serbischen Bevölkerung gerade in Slawonien und der Krajina zu dämpfen, habe er in den Wahlkämpfen die Atmosphäre angeheizt und damit auf billige Weise Stimmen gewinnen wollen. Daß es unter diesen Umständen den serbischen Nationalisten leichtfiel, einen Teil der Serben Kroatiens für ihre Kriegsziele einzuspannen, sei nur logische Konsequenz dieser verfehlten Politik. Auch wenn formal die Existenz der serbischen Minderheit im Lande im Zuge der Anerkennung Kroatiens gesichert wurde, ist es nicht gelungen, das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen. Viele Serben der besetzten Gebiete haben zudem an Verbrechen gegen die kroatische Bevölkerung teilgenommen. Es wird nicht einfach sein, einen Modus vivendi herzustellen.
Eines der wichtigstens Hemmnisse für die Weiterentwicklung Kroatiens wird im Gegensatz zu dem Minderheitenproblem jedoch im Ausland wenig beachtet. Angesichts der Unentschiedenheit der „Weltgemeinschaft“, angesichts der Scheu, im Krieg eindeutig Partei gegen den Aggressor und für die Opfer zu ergreifen, mußte die Verteidigung Kroatiens mit illegalen Mitteln organisiert werden. Tudjman und der kroatische Staat waren angewiesen auf den Aufbau illegaler Strukturen. Daß sich dabei Mafia-ähnliche Gruppen bildeten, ist nicht verwunderlich. Sie werden zunehmend gefährlich, seit sie darangehen, auch in anderen Politikfeldern und in der Ökonomie Fuß zu fassen.
Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang das Gewicht, das den westherzegowinischen „Pressure Groups“ zugewachsen ist. Denn diese Gruppen haben durch ihre guten Verbindungen zum kroatischen Exil großen Anteil an dem Waffengeschäft. Vermittels dieser Aktivitäten haben die westherzegowinisch-bosnischen Politiker ihren Einfluß in Zagreb ausdehnen können. Nicht zuletzt ihrem Einfluß sei es geschuldet, daß die kroatische Regierung den Bruch des Bündnisses mit der bosnischen Regierung, der durch die westherzegowinische Führung herbeigeführt wurde, tatenlos zusehen mußte, erklären kroatische Kritiker dieser Politik.
Viele führende Köpfe in Zagreb vermuten, diese Politik verstoße langfristig gegen die gesamtkroatischen Interessen. Scharfe Auseinandersetzungen selbst innerhalb der regierenden Partei und der Regierung sind die Folge. Solange aber das Waffenembargo besteht, wird diese aus dem illegalen und kriminellen Milieu hervorgehende Einflußnahme auf die Politik wohl kaum erfolgreich bekämpft werden können. Eine Belegung Kroatiens mit einem Wirtschaftsembargo, wie sie in Westeuropa und der UNO derzeit diskutiert wird, würde nach Ansicht vieler kritischer Intellektueller diese gefährlichen antidemokratischen Tendenzen in der kroatischen Gesellschaft nur verstärken.
Immerhin hat die internationale Diskussion bewirkt, daß nun auch die westherzegowinische Führung, die dem kroatischen Staat zwar formell nicht verpflichtet ist und bisher vor allem regionale Interessen vertrat, zum Einlenken bereit zu sein scheint. Die Wege nach Zentralbosnien sollen für Hilfstransporte wieder geöffnet werden, erklärte der politische Chef der kroatisch-bosnischen Armee HVO, Jadranko Prlić, in der Nacht zum Sonntag. Die Gefangenenlager in der Region Mostar würden aufgelöst. Würde dies tatsächlich umgesetzt, wäre nicht nur ein Wunsch der Kroaten in Kroatien in Erfüllung gegangen.
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