In der Enge herumirren

New York im Kino: Spektakel im Frankfurter Filmmuseum  ■ Von Norbert Grob

Der amerikanische Pionier ist in Trivialmythen ein Mensch der Natur. Ungebundenheit in endloser Weite, Auseinandersetzung mit vorgegebener Gewalt, Eroberung und Kultivierung des Unberührten, das ist die Vorderseite des Traums, der Kampf, Bewährung und Erlösung verheißt. Der Western – als „das amerikanische Kino par excellence“ – hat diesen Traum oft grandios ausgemalt. Die andere, dunklere Seite, im Kino seit den frühen vierziger Jahren präsent, ist der Krieg in den engen Straßen der Metropolen. In der Perspektive ist die Horizontale durch die Vertikale ersetzt, die Übersicht durch rasche Blickwechsel, durch Detailbilder, Montage, Zersplitterung. In der Stadt, das zeigen nicht nur zahllose Krimis und Thriller, sondern auch Komödien, Melos und Musicals, geht es nie um Erlösung, sondern ums bloße Überleben. Die Metapher des Dschungels, inzwischen längst zum Klischee geworden, bündelt noch immer die Impressionen: Das unaufhörliche Gewimmel. Der ununterbrochene Wechsel. Der unerwartete Zwischenfall. Die zufällige Begegnung. Der zerstückelte Blick. Das Leben ist düster, chaotisch, undurchschaubar. Die Menschen sind nicht länger „Macher“ ihres Alltags. Verblendung, Konfusion und Fatalität dominieren.

In seinem Essay über den film policier americain hat Michel Cieutat die Großstadt als den „größten Schandfleck im Fehlschlagen des amerikanischen Traums“ bezeichnet. „Jeder, der sich für lange Zeit in die urbane Welt wagt, kann sicher sein, dort seine Unschuld zu verlieren. Hollywood hat nicht vergessen, daß die erste Stadt der Geschichte, wie uns die Bibel berichtet, von Abels Bruder errichtet wurde. Daher wird die Stadt zur Quelle von Mord und Korruption. Und wer dorthin vorstößt, wird augenblicklich mit dem Zeichen Kains geschlagen.“

Der dreiteilige Filmzyklus „New York, New York“, den das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt am Main noch bis Mitte August zeigt, schließt die unterschiedlichsten Blicke auf das Leben in der Metropole ein: frühe Genrestücke wie George L. Tuckers „Traffic In Souls“ (1913) oder Raoul Walshs „Regeneration“ (1915), neorealistische Annäherungen wie King Vidors „The Crowd“ (1928) oder Elia Kazans „America, America“ (1963), semidokumentarische Thriller wie Henry Hathaways „The House On 92nd Street“ (1945) oder Jules Dassins „The Naked City“ (1948), Genre-Klassiker wie Samuel Fullers „Park Row“ (1952) oder Stanley Kubricks „Killer's Kiss“ (1955), schrill poetische Visionen wie John Cassavetes' „Shadows“ (1969), Martin Scorseses „Mean Streets“ (1973) oder Jim Jarmuschs „Permanent Vacation“ (1980).

Der Ansatz dieser Reihe ist zum Glück phänotypisch, nicht enzyklopädisch. Das Bilder-Spektrum, das die Stadt mal als authentischen Schauplatz, mal als visuelle Imagination präsentiert, soll möglichst vielschichtig sein. Wodurch sich ein wundersamer Effekt ergibt. Man sieht oft dieselben Motive: die Skyline von Manhattan, die Brooklyn Bridge und den Broadway, natürlich, die Bowery, die Lower East Side, Little Italy. Nur enthüllen die Fiktionen drumherum ganz überraschende Blickwinkel. Es ist wie bei einem Mobile: die einzelnen Teile bleiben dieselben; in Bewegung gesetzt, offenbaren sie neue Seiten.

Ganz am Anfang blieb New York überwiegend Kulisse. Bekanntere Sehenswürdigkeiten der Stadt: Brücken, Gebäude, Straßenzüge, wurden als fotografische oder sogar gemalte Motive eingesetzt. Dieser Hang zur Kulisse, zur nachgestellten, imitierten Sicht auf New York gründete eine Tradition, die bis Josef von Sternbergs „Docks Of New York“ (1928), ja noch bis Alfred Hitchcocks „The Rope“ (1948) gültig blieb, wo die gemalte Skyline von Manhattan im Hintergrund (auch durch das Chaos von Linien, Flecken und Punkten) die Atmosphäre von Desorientierung, Irritation und Verstörung symbolisiert, die das mörderische Tun im Vordergrund erst nachvollziehbar macht.

Der gemalte, gebaute Blick ist Zeichen einer expressiven Ästhetik, die nicht Reales, sondern Virtualitäten in Szene setzt. Atelier- Landschaften betonen das Künstliche, sie sind Ausdruck einer Haltung, die das Kino von seiner Affinität zum Realistischen freizumachen sucht. New York ist in diesen Filmen reine Phantasmagorie, zusammengesetzt aus Idee und Vorstellung.

Andererseits integrierte Raoul Walsh, der große, naive Propagandist des unentwegten Aufbruchs, bereits 1915 Szenen in seinen Gangsterthriller „Regeneration“, die er an Originalschauplätzen in New York aufgenommen hatte. Wie später in den Filmen der visionären Realisten: Fuller („Park Row“) und Kazan („On The Waterfront“, 1954), dienen die originären Bilder von New York als zusätzlicher Ausdruck, um die Erzählung authentischer zu färben – nicht im dokumentarischen Stil, eher im Sinne der fiktiven Komposition. Die Bilder des realen New York sollen die Geschichten aufregender, lebendiger, auch endgültiger machen. Die Realität ist als Schein genutzt, um damit den filmischen Schein des Realen um so stärker zum Strahlen zu bringen.

Das Leben in New York: ein ewiges Herumirren, begrenzt durch Gitter und Mauern. Bei Henry Hathaway („The House On 92nd Street“) und Jules Dassin („The Naked City“) dagegen wirkt der dokumentarische Gestus der New Yorker Szenen ganz eigenständig: als Beleg und Hinweis. An den Rändern der Erzählung brechen die alltäglichen Straßen- Brückenbilder die glatten Dramaturgien und präsentieren – ganz ungeniert – einfach den ornamentalen Reiz der hektischen Großstadt. Während bei Fuller und Kazan New York eher das Ambiente für „die herausgehobenen Momente“ bietet, die das Geschehen zur Tragödie verdichten, so bilden bei Dassin und Hathaway die Stadtbilder selbst das Herausgehobene, das Singuläre. Zwischen die Aktionen der eifrigen Detektive legen sie ihren eigenen roten Faden, der die Stadt zum eigentlichen Helden macht. New York in diesen Filmen ist ästhetische Beschwörung, zusammengesetzt aus Dokument und Vision.

Die drei schönsten New-York- Filme aus neuerer Zeit sind späte Klassiker des Kinos, jenseits von Hollywood entstanden: Cassavetes' „Shadows“, Woody Allens „Manhattan“ (1979) und Scorseses „Taxi Driver“ (1976). Melancholische Variationen über die unerträgliche Schwierigkeit des Seins in der Großstadt, pointilistisch inszeniert der erste, komödiantisch der zweite, dramatisch der dritte.

Bei Scorsese ist New York Paradies und Hölle zugleich, Territorium des Allerheiligsten und des Allerschlimmsten. Immer wieder übernimmt die Kamera den Blick des Protagonisten, des Taxifahrers Travis Bickle, auf die Straße. Dabei spiegeln sich in der Nacht die Lichter der Laternen und der Reklame auf dem nassen Asphalt: gelb und rot und blau. Die Bewegung nach vorne suggeriert Eroberung, Entdeckung: die Rasanz der Dinge, die, kaum wahrgenommen, schon wieder verschwinden. Gleichzeitig erblickt Travis im Rückspiegel das Lichtermeer in einer gegenläufigen Bewegung. In dem kleinen Ausschnitt wirken die Lichter, als folgten sie der Fahrbewegung des Autos. Hektik nach vorne und gleichzeitig Ruhe nach hinten: Ein ornamentales Bild entsteht, in dem alles zerfließt. Dieser Blick zerstückelt die Welt. Und er zerreißt die Menschen, die in ihrem Alltag die Welt so wahrnehmen müssen.

Wie diese Szene im einzelnen, so der Entwurf insgesamt: Einen Film über einen „metallenen Sarg“, über das „Auto als Symbol der Einsamkeit in der Stadt“, über einen „Mann, der sich durch die Straßen bewegt wie eine Ratte durch die Abwässerkanäle“, nannte der Drehbuchautor Paul Schrader seinen „Taxi Driver“ später. Schließlich die grellen Rock-'n'-Roll- und Punkfilme von Amos Poe („The Foreigner“, 1978) und Jim Jarmusch („Permanent Vacation“). Keine Geschichten, nur Momentaufnahmen, die sich zu fragmentarischen Poesien fügen. New York ist zur Wildnis verkommen, wo jeder sich selbst und seinen mehr oder weniger obsessiven Macken und Moden überlassen bleibt. Nichts macht Sinn, nichts ergibt ein Ziel. Leben ist Herumstreunen. Alles ist erlaubt und alles möglich. Wichtig allerdings bleibt die Musik, Ivan Kral bei Poe, Charlie Parker und John Lurie bei Jarmusch. Und wichtig ist, daß man den Gefahren der Stadt trotzt – selbstbewußt und mit innerer Ruhe. Man könne nichts mehr erklären, das vor allem habe er erklären wollen, sagt der Junge am Ende bei Jarmusch. Er sei bloß ein Tourist mit Ferien auf Dauer.

Ein New Yorker als Tourist in New York – Permanent Vacation. Das ist das allerletzte, böse Fazit. New York: ein riesiges Desaster, eine schwarze Utopie. No Way Out.

„New York im Film“ noch bis Mitte August im Frankfurter Filmmuseum am Schaumainkai.