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Geisterstunde am Salzberg

Stefan Heym und Ulrich Plenzdorf lasen für die streikenden Kali-Kumpel von Bischofferode  ■ Von Niklaus Hablützel

Der Berg ist rot. Ein Fahrweg führt hinauf, der Blick ins Tal könnte einen Dichter schon begeistern. Eisenbahngleise verschwinden im Morgendunst, Kamine dampfen, das Förderband rumpelt. Anja Marx, Schülerin der 11. Klasse in Nordhausen, hat ihr Gefühl so beschrieben: „Ein kleines Nest, das Bergleute hat, Bischofferode, Heldenstadt.“

Mag darüber lächeln, wer will. Anja Marx hat schon richtig hingesehen. „Ihr werdet noch stolz sein darauf“, wird am Abend auch Stefan Heym behaupten, Schriftsteller von Beruf. Er hat aus seinem neuen Buch vorgelesen für die 22 Männer und vier Frauen, die auch an diesem Tag ihren Hungerstreik fortgesetzt haben. Den Berg hat er nicht bestiegen, den roten, dessen Farbe im übrigen täuscht. Regen wäscht weiß und blank das Salz aus dem Abraum, den die Förderbänder hier seit bald neunzig Jahren aufgetürmt haben. Aber Heym braucht keine poetische Aussicht. Er kennt Helden schon länger, weiß, daß es ja keine sind.

Eine Fernsehredakteurin ruft an. Sie will wissen, warum er, der Dichter, hierher gefahren ist. Nach der Antwort ist die Leitung unterbrochen. Ahasver, der mythische Jude auf ewiger Wanderschaft, blickte wohl so ähnlich auf dieses tote Telefon, müde und wütend, aber mit Spott in den Mundwinkeln. Eine Lieblingsfigur des Stefan Heym, der er einen seiner besten Romane gewidmet hat. Lohnt sich dieser Kampf? Es wiederholt sich so vieles, auch hier im Bergwerk, das den Namen des Christen Thomas Müntzer trägt: „Weil das eine alte Gewohnheit von mir ist“, hat Heym der Redakteurin ins Telefon geknurrt, „ich habe es schon immer für nötig gehalten, streikende Bergleute zu besuchen, das letzte Mal in Amerika. Ich habe darüber... Wie bitte? Ja, den Roman können Sie kaufen.“

Die Streikenden von Bischofferode bekommen ihn geschenkt. Heym hat etwa dreißig Exemplare der Erstausgabe mitgebracht, die 1953 in der DDR erschienen war. Band für Band geht er den Stapel durch und schreibt sein Autogramm auf die erste Seite. Ulrich Plenzdorf sitzt daneben und schaut noch kummervoller über die Brille als ohnehin schon, seit er hier angekommen ist. „Ich habe so wenig Bücher“, sagt er. Und daß er ausgerechnet hier eines verschenken könnte, kam ihm nun schon gar nicht in den Sinn. „Warum nicht?“ blafft Heym zurück. „Wußte, daß die noch gebraucht werden.“ Recht hat er mal wieder und schreibt weiter seinen Namen. Vorne am Fenster telefoniert ein Betriebsrat, er sieht, daß auch Dichter arbeiten.

Nur Plenzdorf fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Diese Lesung war Klaus Schlesingers Idee gewesen, auch ein Schriftsteller, lebt schon länger in Westberlin. Sogar Grass ist angefragt worden, hat aber nicht einmal geantwortet. Plenzdorf ist zwei Stunden zu früh angekommen, möchte ein wenig schlafen, aber das Hotelzimmer ist in der Kreisstadt Worbis reserviert. „Vielleicht könnte man ja die Grube...?“ fragt er, „ich glaube, Kali hat mit Dünger zu tun.“

Als es endlich soweit ist, alle Bücher signiert sind, die Fernsehkamera in Position ist und auch Plenzdorf aufsteht, sein Manuskript in der Hand, da kommt schon wieder etwas dazwischen. Gisela Bernd muß nach dreizehn Tagen ihren Hungerstreik abbrechen. Sie nimmt den Blumenstrauß entgegen und spricht zum Abschied Sätze in den Saal, die kein Plenzdorf oder Heym jemals gewagt hätten, zu Papier zu bringen. „Ich habe mich sehr gefreut, daß ich bei euch sein durfte. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.“

Das Eichsfeld ist eine katholische Gegend, auch der Pastor predigt für die Kaligrube, dieser Ausdruck schierer Demut war nun aber doch zuviel für den Dichter aus Berlin. „Ich will jetzt nicht mehr lesen“, sagt er, ihm sei nun klargeworden, daß „wir Schriftsteller hier eigentlich nichts tun können.“ Heym klappt sein Buch auf. Jetzt erst recht. Die ganze Aktion war falsch angefaßt worden, Schlesinger hatte schon den Anfang verpatzt, von Westberliner Hausbesetzungen erzählt und dann einen Text aus der Zeit vorgelesen. Wer kennt hier die Zeit, und wen beschäftigt die mit Blick auf die Hamburger Alsterarkaden formulierte Frage, ob es eine „Sehnsucht nach der DDR“ gebe? Der Betriebsrat von Bischofferode fordert Einsicht in den Vertrag zwischen der Treuhandanstalt und dem Chemiegiganten BASF. Die beiden Gesellschaften, historisches Unikum die eine, Nachfahre eines Nazi-Kartells die andere, haben ausgehandelt, ihre Töchter, die Mitteldeutsche Kali AG in Sondershausen und die Kali und Salz AG in Kassel, zu vereinigen und ausgerechnet Bischofferode zu schließen, die Kaligrube, die in den letzten Monaten noch Absatzzuwächse, vor allem im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, zu verzeichnen hatte.

Das kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, findet der Betriebsrat und will die Wahrheit herausfinden. Manche haben sie immer schon gewußt und deshalb ihre Solidaritätsadressen hinterlassen. Die diesbezüglichen Schriftsätze hängen an der Außenseite der Pappwände, mit denen sich die Hungerstreikenden in der Werkskantine abgeschirmt haben.

Es ist schon zum Gemeinplatz geworden, daß in Bischofferode nicht nur für ein Bergwerk gekämpft wird, sondern für Selbstachtung einer ganzen Generation, die gewiß nicht stolz ist auf die alte DDR, nun aber doch das Gefühl hat, erst recht betrogen zu sein. Als die Dichter in Bischofferode lasen, versammelten sich ganze Belegschaften in Zella-Mehlis, wo eine Fabrik für Kugellager geschlossen wird. Der Vertreter der Gewerkschaft und der Minister der thüringischen Staatskanzlei wurden ausgepfiffen. Als die Delegation aus Bischofferode abends in zwei Sonderbussen nach Hause kam, erhöhte sich die Schätzung von ursprünglich fünf- auf nunmehr zehntausend Demonstrierende. Die Landesregierung tut bis auf weiteres gut daran, die jeweils höchste Zahl für die wahrscheinlichste zu halten.

Denn die Wahrheit ist weit komplizierter, als in den Ministerien angenommen wird, die jetzt nach Konzepten Ausschau halten. Die Arbeiter haben den freien Unternehmer entdeckt, in diesem Fall den Mittelständler Johannes Peine, der anbot, die Grube mit ein bißchen Eigenkapital und den von der Treuhand zugesagten Subventionen weiterzubetreiben. „Ohne den wären wir nie auf die Idee gekommen, so etwas zu machen“, sagt einer vor dem Werkstor. Falls nötig will auch er hungern, „mehr als zwanzig auf einmal müssen es ja nicht sein“. 700 sind hier noch beschäftigt, das reicht für drei Jahre des Durchhaltens. Und die Wahrheit, die Betriebsrat Rybicky einfordert, darf dann auch so aussehen: „Wenn Peine das Ding gegen die Wand fährt, nun gut, dann ist das eben die Marktwirtschaft.“

Nur wenn Treuhand und BASF dasselbe tun, ist alles ganz anders. Leicht zu lösen ist dieses Eichsfelder Rätsel nicht, schon gar nicht für Stefan Heym. Er hat sich eine eigene Geschichte zurechtgelegt, liest sie vor, nur paßt sie schlecht zum neuen Arbeiterglauben an das private Kapital. Ein historisches Märchen wohl eher, vielleicht das letzte eines alten, ruhelosen Mannes. Es handelt von anderen, von bösen Männern. Sie haben die Treuhandanstalt zu einem neuen Politbüro gemacht. Dem alten gleicht es aufs Haar, und erfüllt nun, jeder Kontrolle entzogen, den einen und einzigen Auftrag, den der letzte Ministerpräsident der DDR noch in das Gesetz schrieb. Seither wird das Eigentum des Volkes nicht mehr verwaltet, es wird verkauft und verschleudert an neue Herren.

Verloren haben am Ende immer dieselben, groß war der Applaus daher nicht. Den Eichsfeldern hat noch nie viel gehört, was sie hätten verkaufen können. Und die Treuhand wird hier als Krake auf das Transparent gemalt, die aus dem Westen kommt. Nun sollen die Kumpel auch daran noch schuld sein? „Wir haben gar nicht gelebt, wir haben's bloß nicht gemerkt“, hat Ulrich Plenzdorf listig darauflosgedichtet.

Lesen muß er das jetzt doch noch, Heym hat ihn angeschnauzt, „die Leute haben ein Recht darauf, nu machen se mal“. Die Hungerstreikenden haben geklatscht, aber Plenzdorfs Tag war das trotzdem nicht. Am Sonntag kommen die Puhdys, alle reden schon jetzt von dem Konzert und haben den Text vergessen: „Für die hab' ich mal Songs geschrieben.“ Plötzlich sind alle so politisch geworden, Heym redet mit den Betriebsräten über die Chancen eines soeben gemeldeten Angebots des Bonner Finanzministers. Ein Wirtschaftsprüfer, der das Vertrauen der Belegschaft genieße, dürfe den ominösen Fusionsvertrg einsehen, heißt es. Die aufrührenden Leiden des jungen W. sind das nun nicht gerade, der Autor mußte inzwischen eine Bürgerinitative gründen, die gegen eine geplante Kiesgrube in seiner Heimatgemeinde am Berliner Stadtrand kämpft. „Es geht da auch um Abbau, aber nicht von Arbeitsplätzen“, sagt er und fühlt sich wieder fehl am Platz im Angesicht des roten Salzgebirges. Denn Plenzdorf hat auch mal die Lausitz besucht, möchte da aber lieber nicht wieder hinfahren.

Zur Diskussion, der wie immer erwünschten, kam es nicht. Zu viele Antworten waren gegeben worden. Hungerstreikende und Betriebsrat kennen sie schon auswendig und beginnen zu ahnen, daß sie nicht genügen. Denn nicht jeder Greuel reimt sich so leicht auf Birgit Breuel, wie es auf den Transparenten steht. Vielleicht kommt Rita Süssmuth noch einmal vorbei, eine Delegation soll mit dem Minister der Staatskanzlei sprechen, irgend etwas bewegt sich immer. Auch für Stefan Heym kann dieser Tag so nicht enden. Die Geschichte, die er vorlas, stimmt nicht ganz, die andere auch nicht, die er hier bisher zu sehen und zu hören bekam. Man möchte ihm nun unbedingt noch Oskar zeigen. Plenzdorf trabt brav hinterher. Oskar ist ein Skelett, das aufgebahrt neben den Feldbetten der Hungerstreikenden liegt, die Bergmannslampe in der Knochenhand, den Schutzhelm zu Füßen. Am Fenster steht ein Tisch, zwei, drei Männner sitzen davor, Hungerstreikende und einer, der nur Sympathisant ist, wie er sagt, „aber was heißt hier nur“?

Er wird noch viel zuviel reden in der Geisterstunde, die nun beginnt. Vor dem Dichter brennt eine Kerze. Es irrlichtert sehr ahasverisch. „Gehöre ja nun zu den Großkopfeten“, flüstert er so leise, als ginge das nur den Tisch etwas an, „treffe mich da manchmal mit Frau Breuel, diesem Dohnanyi und solchen Leuten. Das ist eine Krise. Die sind wirklich ratlos.“ Der Sympathisant will Karl Marx zitieren. Heym grinst böse, und fällt wieder in sich zusammen. „Die Leute, die über Ungarn geflohen sind, wollten noch etwas haben von ihrem Leben.“ Der Sympathisant rutscht auf seinem Stuhl herum. „Wollte mit Micha Wolf reden, habe mich nicht getraut, keiner hat ja keinem getraut, das war ja immerhin diese Abteilung da, nicht?“ Plötzlich fällt auf, daß auch Schriftsteller Schlesinger daneben steht. „Aber wir haben uns doch getroffen...“ Heyms Hand fegt über den Tisch. „Ach was, nichts haben wir getan, gar nichts, das ist das Problem.“

Plenzdorf möchte jetzt endlich nach Worbis fahren. Heym hat ein paar Hundertmarkscheine in den Helm des Knochenmannes gelegt. Jetzt, da er wieder geht, liegen noch ein paar Zwanziger dabei.

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