Seit der Wende mehr Gewalt gegen Kinder

■ Staatssekretär Löhe: Jede Ohrfeige ist eine Demütigung / Unterbringungsverfahren dauert Notruf-Beratern zu lange

Kinder werden seit der Wende häufiger geschlagen, die Bereitschaft zur Gewalt in Familien nimmt zu. Diesen Schluß lassen die neuesten Zahlen des Kindernotdienstes zu, die von der Senatsverwaltung für Jugend und Familie veröffentlicht wurden. Danach wurden 1991 in 3.785 beim Notdienst bekanntgewordenen Fällen 438 Kinder „wegen körperlicher Mißhandlung betreut oder aufgenommen“ – rund zwölf Prozent.

Vor der Wende waren es im Westteil der Stadt nach Angaben der Senatsverwaltung zwischen sieben und acht Prozent. Im letzten Jahr habe sich die Tendenz nicht abgeschwächt. Staatssekretär Klaus Löhe (SPD) bezeichnete „materielle, soziale und emotionale Mangelsituationen“ als Grund, gerade junge Eltern fühlten sich überfordert und kompensierten ihr „Scheitern durch gewaltsame Konfliktlösungen“. Besorgt sei er wegen „der jüngsten Forsa-Umfrage, wonach über 50 Prozent der deutschen Eltern meinen, daß eine Ohrfeige nicht schaden kann“. Löhe: „Nichts ist falscher als diese Meinung. Aua! d. Korr.] Jede Ohrfeige ist eine Demütigung“, Gewalt habe stets langfristige Folgen. Dies müßten Eltern bedenken, betonte der Staatssekretär der Jugend-Verwaltung und lobte zugleich das Beratungs- und Hilfsangebot für Familienkonflikte. Der Senat habe trotz aller finanziellen Probleme „sehr viel getan“. Kritischer äußerten sich Mitarbeiter staatlicher und privater Krisendienste gegenüber der taz.

Daß die Verantwortung für die Erziehung in Ostberlin praktisch über Nacht allein den Familien übergeben worden sei, nachdem sie in der DDR staatlich organisiert war, stelle für viele Eltern eine Überforderung dar, so Wolfgang Libera, Sozialarbeiter beim Kindernotdienst. Eine „Krise der Erziehungsnorm“ sei Ergebnis des Zusammenbruchs der DDR, sagte Familienberater Georg Kohaupt vom Verein Kinderschutz-Zentrum Berlin der taz.

Für Kohlhaupt zählt auch Armut zu den Ursachen körperlicher Gewalt. Dazu müsse jedoch neben dem Mangel an Geld der an Perspektive und subjektiver Existenzberechtigung gerechnet werden, wie dieser gerade im Ostteil und den neuen Bundesländern durch die früher unbekannte Arbeitslosigkeit hervorgerufen werde, so der Mitarbeiter der Krisenhilfe in Hohenschönhausen.

In Ostberlin ist nach Liberas Erfahrung die Scheu vor behördlicher Hilfe größer als im Westen. Die „soziale Interventionspolitik der DDR“ habe viele Familien dazu gebracht, „noch isolierter mit ihren Problemen“ umzugehen. Daher nähmen Ostberliner Familien den Notdienst überproportional oft in Anspruch. Wenn die Krise erst eingetreten und ein Kind beim Notdienst sei, müsse dieses dort oft sehr lange bleiben, bemängelte Libera. Schnelle Unterbringung über die Bezirke gebe es zu selten, denn der Weg sei „langwierig und bürokratisch“. Die Funktionsfähigkeit der Krisendienste werde dadurch gefährdet. Christian Arns