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Eine Pflanze setzt sich durch

■ Ganz Hamburg ein Garten: Der nasse Sommer sorgt für Biomasse   Von Kaija Kutter

Manch stolzer Gartenbesitzer, der dieser Tage aus dem Urlaub kommt, wird überrascht sein. Wo einst ein Weg, ein Beet, ein kleiner Trampelpfad war, ist alles zugewuchert. Rosa Springkraut, gelbe Butterblumen, Gräser, Farne, alles wächst und gedeiht in diesen feuchten Sommerwochen wie verrückt. Rasenmähen, Heckenschneiden, Wildkrautzupfen werden zur Last, vor allem für nebenbei berufstätige Menschen. Allein der Anblick der gewaltigen grünen Biomasse weckt Assoziationen an schwielige Hände und krumme Rücken.

Und jedes weitere verregnete Wochenende, an dem sich Grünzeug schneiden und Rasenmähen nicht empfiehlt, gilt als weitere verlorene Zeit im Kampf gegen die Wachstumsgewalt der Natur, die auch vor Straßen und Gehwegen nicht zurückschreckt. Ganz Hamburg wird zum Garten. Wildkräuter sprießen in die Höhe, knicken um unter dem Gewicht des Dauerregens, versperren Fuß- und Fahrradwege, überwuchern Altglascontainer, Parkplätze und Mülltonnen. Wohin der Blick auch fällt, ein Gewächs ist immer dabei: der Beifuß. Ein schlichtes Kraut, oben gräulich-grün, an den Blättern dunkel, das überall wächst und eigentlich zum Wildkraut des Jahres gekürt werden müßte.

Beifuß ist nützlich. Im frühen Mittelalter glaubten die Menschen, daß sie besser zu Fuß und vor Müdigkeit geschützt wären, wenn sie das Kraut in den Schuhen haben. Daher der Name. Aber auch sonst war die Pfanze, die am Mittelmeer und in Skandinavien, aber auch in Asien und Amerika wächst, ein geschätztes und verbreitetes Heilmittel - wofür, steht leider nicht im Küchenkräuterbuch. Aber auch so wissen Öko-Koch und Großmutter, daß es sich lohnt, Beifuß zu pflücken, zu trocknen und fetten Gerichten wie Entenbraten oder Aalsuppe beizugeben (mitkochen!).

Trotzdem ernten Hamburgs Gartenbauämter die Sträucher nicht, weder Supermärkte noch Naturkostläden verkaufen sie. Weil Beifuß heutzutage wohl eher Bleifuß heißen müßte. Heilmittel hin, Kräuterbuch her, was an Hauptstraßen wächst, gehört eher auf den Sondermüll als in den Kochtopf.

Schade. So bleibt denn das Kraut, das bis zu zwei Meter hoch wird (Spitzname: Sommerweihnachtsbaum), für bezirkliche Gartenbauämter vor allem ein Ärgernis. „Das Zeugs kann man nicht rausziehen, da reißen sie sich die Hände blutig“, sagt Peter Zehetner vom Gartenbauamt Eimsbüttel. Da keiner mehr Zeit habe, die Pflanzen vor der Samenreife abzuköpfen, weiten sich Beifuß, aber auch Bärenklau, Knöterich und Quecke immer mehr aus. Wenn Hobbygärtner schon stöhnen, für die professionellen Grünpfleger von der Stadt ist der Vormarsch der Natur nicht mehr zu stoppen. Allein schon aus finanziellen Gründen. Zehetner rechnet vor: Das Hacken von Wildkraut kostet 1,17 Mark, das Umgraben gar 2 bis 4 Mark pro Quadratmeter, wenn er es an eine Privatfirma vergibt – was er tun muß, denn Personal hat er nicht. Sein Etat beträgt aber nur 21,5 Pfennig .

Zehetner hat gerade den Brief eines stern-Redakteurs beantwortet, der sich darüber beklagt, daß die Grandfläche vor seinem Haus vergrünt. Für den Bezirksmann ein klarer Fall: Grandflächen sind Sache des Tiefbauamts, nicht seine, von einem Etat für Grandflächen ganz zu schweigen. Den gibt es nur für öffentliche Parks und Bäume. Für das sogenannte Straßenbegleitgrün haben die Bezirke nur ABM-Kräfte zur Verfügung, wie lange noch, ist angesichts der ABM-Kürzungen ungewiß.

Also wandert die Natur ein. Und das auf vielfälige Art. Huflattich, Hirtentasche, Wegrauke, Mäusegerste, Sandflechten, über 380 Wegrandpflanzen und noch einmal 100 Trittpflanzen hat das Naturschutzreferat gezählt. Früher habe man gegen sie die chemische Keule eingesetzt, erinnert sich Horst Tamke von der Umweltbehörde. Bis 1980 gab es die „Distelverordnung“, die Unkraut-Vernichtung zur Aufgabe des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (SOG) erklärte. Dann setzte sich die Erkenntnis durch, daß Gift auch fürs Grundwasser nicht so gut ist. Seither wurde peu a peu auf Pestizide verzichtet. Tamke: „Nur die Bahn spritzt noch kräftig auf den Gleisen“.

Kein Geld, kein Gift, da schießt das Kraut ins Nämliche. Nur wenn die Verkehrssicherheit gefährdet ist, weil Schilder zugewuchert sind, „reagieren wir auch“, so die Gartenbaubeamten aller Bezirke einhellig. Neben Gemecker ordnungsliebender BürgerInnen bekommen die Grün-Spezialisten aber auch nette Anrufe. Etwa von Nachbarn, die fragen, ob sie zum Wildkraut noch eigene Blumen hinzupflanzen und Beete anlegen dürfen. „Wir prüfen dann“, sagt Wandsbeks Gartenbauchef Hederer, „ob da vielleicht Kabel drunter liegen. Ansonsten sagen wir ja.“

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