In jedem steckt ein Tier

■ Ein typischer öffentl.-rechtl. Vormittag: Telefonseelsorge für Serienverbrühte

„Sie, ich hab' mal 'ne Frage“, tönt es aus dem Telefonhörer. Es ist 6 Uhr früh. Wenn die einen sich noch in der dritten Traumphase befinden oder ins Marmeladenbrötchen beißen, kann bei anderen bereits ein Mitteilungsbedürfnis vorhanden sein. Die einen äußern sich lautstark über das Programm, die anderen stellen Fragen: „Wie heißt denn eigentlich der Frisör der neuen Nachrichtensprecherin?“ Kaum habe ich dies beantwortet, meldet sich eine alte Dame, die dem Ansager X Sprachunterricht empfiehlt, den Moderator Y einen „alten Dackel“ schimpft und das Make-Up der Prominenten Z „unappetitlich“ tituliert. Nachdem meine putzmuntere Gesprächspartnerin ihren Groll abgelassen hat, klingelt bereits der andere Telefonapparat: „Zuschauerredaktion, guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“ – „Es ist nicht mitanzusehen, wie diese jungen Dinger in den engen Anzügen 'rumhopsen!“ Gemeint ist eine im Moment über den Äther gehende Fitneßfolge. Ehepaar Müller glaubt auf Norderney von einem Kamerateam gefilmt worden zu sein und wünscht aufs allersofortigste eine VHS-Kassette dieses Ereignisses. Der nächste Anrufer hat eine sonderbare Bitte an mich: „Können Sie mir sagen, wie das Wetter am 26. April letzten Jahres war!“ Ich verbinde schadenfroh mit der Wetterredaktion. Ein Kriminalkommissar begehrt die Sendezeiten einer beliebten Seifenoper zu wissen. Ein Krankenpfleger aus Düsseldorf vertraut mir an, daß er sich jeden Tag eine Seite Fremdwörterlexikon als Lektüre zu Gemüte führt.

Bis jetzt 60 AnruferInnen. Ein ruhiger Vormittag. Schlimm wird es, wenn sich ein Spielfilm verzögert („Warum quasselt der da immer noch?“!) oder gar die Wiederholung einer volkstümlichen Sendung aufgrund einer Übertragung aus dem Bundestag ausfällt. Wehe! Die erbosten ZuschauerInnen werden dann zu Tieren. Obwohl ich sie freundlich von der Dringlichkeit der Ersatzsendung zu überzeugen versuche, drohen sie, ihr Fernsehgerät abzumelden. Aber das würden sie sowieso nicht übers Herz bringen, fernsehsüchtig, wie sie alle sind.

Es gibt aber auch friedliche wie Frau Schmitz, die ganz bekümmert wegen des ausgefallenen „schönen, alten“ Audrey Hepburn- Films anruft, zu dem sie ihre Freundinnen extra in die Küche eingeladen hat – mit Kuchen und allem Pipapo. „Was soll ich jetzt bloß mit denen anstellen?“ Meine Vorschläge scheinen sie nicht sonderlich zu überzeugen, werden aber trotzdem dankbar zur Kenntnis genommen. „Hat er sie gekriegt?“, giert eine Stimme durchs Telefon? Hä?! Wer? Wen? Bevor ich die lebensnotwendige Information geben kann, habe ich meinerseits erst einmal einige Fragen an den atemlosen Serienverbrühten zu stellen.

Ein Häkelkissen für Heinz Erhardt

Während der Mittagspause, wenn sich der Sturm für wenige Minuten legt, wird Zuschauerpost bearbeitet. Haufenweise kommen Fanbriefe in die Redaktion, deren Inhalt man sich lebhaft vorstellen kann. „Bitte weiterleiden!“, steht dann schon mal quer über den Umschlag geschrieben. Eines Tages war ein Paket für Schauspieler Heinz Erhardt dabei. In dem sorgfältig verschnürten Karton befand sich ein mit viel Liebe gehäkeltes Sofakissen. Die zum Valentinstag gedachte Aufmerksamkeit schickten wir wieder zurück mit der traurigen Mitteilung, daß der Komiker bereits vor einigen Jahren verschieden ist. Einer Tragödie gleich kam der plötzliche Krebstod einer beliebten Ansagerin. Es hagelte Kondolenzbriefe, und die ZuschauerInnen schluchzten hemmungslos in die Telefonhörer.

13 Uhr. Der nächste Anrufer ist ein Kind, das schüchtern flüstert: „Wie werde ich berühmt?“ Fürwahr eine schwierige Frage. Schweren Herzens gebe ich ihm die Telefonnummer eines Kanals, der Sendungen wie „Die Mini- Playback-Show“ produziert. Apropos Gesang. Wenige Minuten später singt mir eine alte Frau ein Stalingrad-Lied aus dem Zweiten Weltkrieg vor. Glockenhell tönt es durch die Leitung. Ob das nicht einmal was fürs Fernsehen wäre? Mit solchen Vorschlägen steht diese Frau nicht allein da. Viele glauben von sich, unbedingt ins Fernsehen zu müssen. Manche versuchen es auch mit einer selbstgeschriebenen Büttenrede, die sie mit viel Räuspern anfangen vorzutragen. Einmal meldete sich ein Hobbyfilmer, der vor 16 Jahren einen Film an den Sender geschickt hatte und ihn nun zurückerbat. Mein Gott, vor 16 Jahren! Auf meine Frage, was er denn in der Zwischenzeit gemacht habe, antwortet er: „Fernseh geguckt und gewartet.“ Geduld bringt eben nicht immer Rosen!

Es gibt auch bewegende Anrufe: Ein Mann hat zufällig das Grab seines gefallenen Bruders gesehen, eine Mutter bedankt sich beim Sender, weil sie dank dessen ihren Sohn wiedergefunden hat, oder eine in Frankfurt erfrorene Obdachlose wird per TV als Cousine Helene identifiziert, die seit zehn Jahren vermißt wurde. „Ick bin ja nu ooch nich so ne fromme Johanna“, bekennt eine Berlinerin, die ein Bericht über Straßenkinder in Rumänien zwei Nächte lang nicht hat schlafen lassen. Die Frau will unbedingt spenden und erzählt betrübt von ihren Kindern, die nur in Benetton-Kleidung auf die Straße gehen. Bemerkenswert ist, daß viele Menschen spontan Hilfe anbieten und sogar bereit sind, fremde Kinder in Not zu adpotieren. Andererseits gibt es Menschen, die ihre Xenophobie ungeniert zu Gehör bringen und sich angeblich allein von den „nackten Busen im Vorabendprogramm“ in die Arme der Republikaner treiben ließen.

Oft agieren wir „freundlichen, jungen Damen“ schlicht als Klagemauer. Aber hat man als GebührenzahlerInnen nicht auch das Recht auf ein wenig Telefonseelsorge? Meist sind es Rentner und Einsame, die die Gelegenheit wahrnehmen, den mehr oder weniger Geduldigen am Ende der Strippe ihre Lebensgeschichte aufzubrummen. In dieser Rubrik existieren auch „Stammkunden“, bei denen man direkt beunruhigt ist, wenn sie sich auf einmal nicht mehr melden.

Meine Schicht ist für heute fast beendet. Gerade habe ich ein 40minütiges Gespräch mit einer Pensionärin beendet, die mir von ihrem Ex-Zivildienstleistenden vorschwärmte, der ihr beim Tod des Ehemannes einen Psychologen erspart hätte und mit dem sie seither eine innige Beziehung unterhält. Seitdem hat sie diesem netten Menschen den Führerschein bezahlt, zwei Autos gekauft und sämtliche Kleidungsstücke spendiert...

Die nächsten „Telefonfräuleins“ stehen schon auf der Matte. Nach dem Einkauf von Brot und Milch rufe ich der Verkäuferin aus Versehen ein „Auf Wiederhören!“ zu, bin aber zu müde, der belustigt Aufschauenden die Sachlage zu erklären. Meine armen Lippen sind nach den heutigen 160 Anrufen einfach zu fusselig geredet. In meinem Kopf geht es zu wie auf einem Autobahnkreuz. Jetzt werde ich es sein, die sich zur Entspannung vors Glotzophonium hockt... Rosina Grün