Zwischen den Rillen: Zahl es alles zurück (vom Metzger bis zum Bäcker)
■ Neues von Adrian Sherwoods On-U-Sound-Label: Little Annie und Jalal
Adrian Sherwood ist nicht erst seit dem letztjährigen Spex-Interview ein „legendärer Typ“. 1981 gründete der ehemalige Toningenieur aus seiner Begeisterung für Dub- und Roots-Reggae heraus das seitdem ungebrochen produktive On-U-Sound-Label. Der mittlerweile auf etwa 130 Titel angewachsene, gerade in der letzten Zeit in wachsendem Tempo erweiterte Back-Katalog bedeutet nicht nur innerhalb eines (im weitesten Sinne) Dancefloor- kompatiblen Zusammenhangs außergewöhnliche Kontinuität – zutreffender wäre wohl: Hartnäckigkeit und Zähigkeit. Der straffen Führung und dem Willen Sherwoods, immer mit den besten verfügbaren Musikern zusammenzuarbeiten, ist es zu verdanken, daß in diesen (mittlerweile dreizehn) Jahren des Bestehens die Qualität der Veröffentlichungen trotz einer sich in alle Richtungen ausdehnenden Vielfalt an keiner Stelle nachgelassen hat. Im Gegenteil: Die auf den beiden letzten State-of-the Art- mäßigen Labelvorstellungen – gemeint sind die Sampler „Pay it all back Vol. 3“ (1992) und „Pay it all back Vol. 4“ (1993) – präsentierte Dichte und Vielfalt an Sounds, bizarren Geräuschen und neuen Talenten wirkt(e) immer wieder erneut euphorisierend.
Adrian Sherwoods Vorstellung einer „Roots Musik im orthodoxen Sinne, aber doch mit progressiven Sounds“ ist dabei keineswegs auf Reggae beschränkt – was auch die hier besprochenen Acts beweisen. Wesentlich und auch maßgeblich für die oben erwähnte Kontinuität ist jedoch, daß Dub/Reggae entlehnte Produktionsweisen und damit verbundene Haltungen allen von Sherwood geförderten Projekten, Bands und Interpreten zugrunde liegen: von African Head Charge, Dub Syndicate, Lee Perry, Mark Stewart, Gary Clail, Litte Annie, New Age Steppers bis hin zu Jalal.
Interessant in diesem Zusammenhang auch, daß Sherwood – in vermeintlichem Widerspruch zu seiner Eigenschaft als „Sound- Tüftler“ und genialer Produzent – auf allen Produktionen „richtige“ Musiker beschäftigt. Mit dem Gitarristen Skip McDonald und dem Bassisten Doug Wimbish (beide ehemals Mitglieder von Tackhead; Wimbish lehnte letztes Jahr immerhin das Angebot, Will Wyman bei den nicht gänzlich unbekannten Rolling Stones zu ersetzen, ab) bildet Sherwood darüber hinaus die neue On-U- Sound-Hausband Strange Parcels, deren mit wechselnden Gastsängern aufgenommene erste LP demnächst erscheinen wird.
Auch das – sechs Jahre nach ihrem auf dem One Little Indian- Label veröffentlichen Debüt – soeben erschienene zweite Album „Short & Sweet“ von Little Annie (ehemals Annie Anxiery Bandez) wird von dem federnd-luftigen Dancefloor-tauglichen Klangteppich der Strange Parcels getragen. Little Annie ist die Girl- Pop-Variante des On-U-Imperiums mit allen damit zu assoziierenden Stärken und Schwächen. Sie schlängelt sich immer haarscharf an den Fallen einer sich hin und wieder zu weit aus dem Fenster lehnenden mädchenhaften Früh-Achtziger-Laszivität vorbei, nicht ohne dabei gelegentlich mit den Stöckelschuhen in die Scheiße des bloß „charmant“ zu bezeichnenden netten Pop-Songs zu schlittern, der am Ende auch noch meint, vermeintlich verrucht „Oh baby, you're so hip it hurts“ züngeln zu müssen („Little Man“).
Doch es gibt auch wirklich große, magische Momente auf „Short & Sweet“, etwa das von einem euphorisierenden Groove durchzogene „Bless Those (Little Annie's Prayer)“, in dem die ganze Welt vom Metzger bis zum Bäcker in Annies Abendgebet Platz findet – „Bless those who care and those who can't be bothered“. Definitiv unwiderstehlich ist in erster Linie jedoch das bereits auf dem dritten „Pay it all back“-Sampler vertretene „I think of you“: Auf ihren Ehemann wartend, verlebt Annie einen gewohnt langweiligen Tag, indem sie alle Haushaltstätigkeiten durch den Gedanken an sein Heimkommen „transzendiert“ („... like a sex machine, I think of you“), bis dieser ihr nach der Arbeit einen „in these inflationary times“ für „97 Pounds 40“ bei Marks & Spencer gekauften Schinken mitbringt und auf den Tisch wuchtet mit den Worten: „Miss Annie, this is for you – I think of you“.
Bereits von „Pay it all back Vol. 4“ bekannt ist das Titelstück der neuen Mini-LP „Mankind“ von Jalal. Wer auch nur einen flüchtigen Blick wirft auf die Entwicklungen der schwarzen Musik der letzten zehn Jahre im allgemeinen und HipHop im besonderen, wird unweigerlich an zahlreichen Stellen auf dem Namen Jalal Nurridin stoßen. Jalal war Ende der sechziger Jahre neben Omar Ben Hassan der wichtigste Poet der aus Harlem stammenden Last Poets, die, wie sonst niemand, konsequent die Grundlage für spätere Rap-Generationen aus der afrikanischen „Oral Poetry“ herausarbeiteten (und sicherlich zu den meist gedroppten Namen auf diversen Thanx-Listen auch noch heutiger HipHop- Acts zählen). Seitdem hat Jalal mit den wichtigsten Vertretern schwarzer oder von Schwarzen inspirierter Musik zusammengearbeitet – von Hendrix, Material, Bill Laswell bis hin zu Kool & The Gang.
„Mankind“ ist eine für Sherwood-Verhältnisse spartanische Produktion: Fast schon beschwörend erhebt sich aus den relaxten, unter anderem von Skip McDonald, Doug Wimbish und dem jamaikanischen Schlagzeuger Style Scott eingespielten Grooves die Stimme Jalals: mahnend, bedrohlich, eine (An)Klage voll kontrolliertem Zorn, immer wieder unterbrochen von dem mahnenden „Oh Mankind“ des Chors. Eine großartige Platte, die im Hinblick auf das in Kürze zu erwartende „richtige“ (ebenfalls auf On-U-Sound erscheinende) Album Jalals einiges verspricht. Christopher Emrich
Little Annie: „Short & Sweet“
Jalal: „Mankind“
(beide: On-U-Sound)
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