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„...mich lockt der Weg“

■ Hans-Jürgen Heinrichs über Reiseliteratur

Reisen und Schreiben sind für den Ethnologen und Literaten Hans-Jürgen Heinrichs zwei Spielarten desselben Abenteuers. In der Fortbewegung und der Schrift ereignen sich für ihn die letzten Wunder, die der modernen Zeit noch gegönnt sind: Ausbrüche aus der Alltagsroutine, Übergänge in ekstatische Lebenszustände, Überschreitungen der Grenzen von Rationalität und Phantasie. Daß Reisen mit solch wunderbaren Zielen nicht pauschal im Reisebüro gebucht werden können, versteht sich dabei von selbst. Oder wem erschließt sich schon die „wunderbare Fremde“ in der abgeschlossenen Welt einer Feriengroßanlage? Schließlich spricht schon der Titel des Buches von den „geheimen“ Wundern des Reisens.

Und doch sind die Intensivitäten und Entdeckungen, um die es hier geht, gar nicht so exklusiv geheim. Von ihrer Darstellung lebt vielmehr die europäische Reiseliteratur dieses Jahrhunderts, zumindest in ihren anspruchsvolleren Hervorbringungen. Oder, in Worten von Heinrichs: „Die Reisenden dieses Jahrhunderts folgen, sofern sie auch Dichter sind, ihrer écriture wie ihrer eigenen Lebenslinie, fühlen sich dem Mysterium des Lebens verpflichtet und der Aufgabe, den richtigen Ton zu treffen. Dazu unternehmen sie Expeditionen in reale ferne Länder und in das ,innere Ausland‘, wie Freud die Seele einmal nannte, erfinden ,Helden‘ und müssen erleben, wie diese abstürzen und sich in Fragmenten und Bruchstücken verzehren.“

Die Texte, die zur Bestärkung dieses Befundes zitiert werden, stammen unter anderen von Joseph Conrad, Victor Segalen, Michel Leiris, Joseph Brodsky und Bruce Chatwin. Und das letzte Wort des Buches erhält Isabelle Eberhardts Orientbericht „Sandmeere“: „... mir bleibt die Sonne und mich lockt der Weg. Das wäre schon fast eine ganze Philosophie.“ Es wäre aber wohl auch der methodische Imperativ von Heinrichs' Essay: Auch er gibt sich nämlich mit Fragmenten und Bruchstücken zufrieden und wird nur „fast“, sozusagen en passant, zur Philosophie.

Freilich: Wer über die literarhistorischen Zusammenhänge von Reisen und Schreiben Genaueres wissen wollte, müßte philologisch gründlichere Bücher zu Rate ziehen. Auch Hans-Jürgen Heinrichs hat einige verfaßt: Sie handeln etwa vom Ethnologen Michel Leiris oder vom Ethnopoeten Hubert Fichte. Verglichen damit ist das kleinformatige Essaybändchen aus dem Droschl-Verlag nur ein Exposé des Problems. Wer aber ein paar Gedanken und Zitate für unterwegs braucht, ist mit dem Buch gut bedient. Es paßt in jede Jackentasche und eignet sich zur Füllung von etwa zweieinhalb Flugstunden. Von Wien aus gerechnet, wäre man da schon fast in Lissabon. Hermann Schlösser

Hans-Jürgen Heinrichs: „Die geheimen Wunder des Reisens“. Droschl Verlag Graz/Wien 1993, 132 Seiten.

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