: Bild der Realkosten
■ Zur Eröffnung des 46. Filmfestivals in Locarno
Seit Donnerstag sind sie wieder eröffnet, die „größten Filmfestspiele unter den kleinen“, im zur Zeit von Raupen kahlgefressenen Tessin.
Der ambitionierte neue Direktor, der Sinologe Marco Müller (40), buhlt bereits im zweiten Jahr um die „Majors“ unter den Verleihern. Er soll über 50.000 Filme gesehen haben. Natürlich fehlen in diesem Gerangel um letzte Nischen die hehren Verlautbarungen nicht: „Beim Stand der Dinge ist das Kino das einzige Mittel, das wir haben, um uns zwischen den Bildern der Gegenwart orientieren zu können. Eine Zensur des Marktes, der unsere Kinoerlebnisse mit dem Computer und nach Marktforschungen programmiert, ist daran schuld, wenn Filme keine sensiblen Zuschauer mehr finden. Immer häufiger produziert die Industrie keimfreie Maschinerien, die nicht mehr ein kostspieliges Bild der Realität, sondern ein Bild der Realkosten anbieten ...“ So weit, so gut (wenn auch bereits anderswo rezipiert), möchte man Müller kostenlos Beifall spenden, wäre da nicht ebenso die Einladung für das Schmerzlose: „... Reinheit, Absolutheit sind ungehbare Wege geworden; man muß die Authentizität auch in ihrem Gegenteil suchen, in der Vermischung der Stilrichtungen: der Quantität der Ausdrucksformen und ihrer Verschmelzung ...“
In Locarno haben Erstfilmer keine Chance: Nur zweite und dritte Werke kommen in den Wettbewerb. In der Jury sitzen dieses Jahr u.a. Allison Anders (USA), Filmemacherin, mit „Gas, Food, Lodging“ 1992 im Wettbewerb von Berlin, desgleichen Olivier Assayas (Frankreich), „L'enfant de l'hiver“ und „Paris s'éveille“, 1991, dito Kathryn Bigelow (USA), u.a. „Blue Steel“ 1990, Ferid Boughedir (Tunesien), der bekannteste Filmkritiker Afrikas, der Maler Francesco Clemente (Italien), dessen Bilder im Museum of Modern Art hängen, die Schauspielerin Valeria Golina (Italien), u.a. in „Rain Man“ 1984, die chinesische Regisseurin Ning Ying, mit „For fun“ 1993 Preis der Kritik am Berliner Forum des Jungen Films, und schließlich der Veteran deutscher Kinoheimat: Edgar Reitz.
Vielversprechend sind auch die Nebenschauplätze des Wettbewerbs. So kommen eine Reihe von Filmen aus den GUS-Staaten erstmals in den Westen. Die Tradition anspruchsvoller Retrospektiven mit eigens edierter Standardbibliographie wird mit Sacha Guitry (1885-1957) und dem Neorealisten Valerio Zurlini (1926-1982) fortgeführt. Der Hollywood-Routinier Samuel Fuller (geb. 1911) erhält den „Leopardo d'onore“. Und auf der großen Piazza, die bis zu 10.000 Zuschauer faßt und als eine der schönsten Filmarenen der Welt unter dem Honigmond gilt, winken ebenfalls manche Überraschungen. Andy Eglin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen