Der IM, für den sich niemand interessiert

Agentenhysterie in Bonn, Verdächte allerorten: Nur ein Hamburger Kaufmann, der prominent in Stasi-Akten auftaucht, wird – aus welchen Gründen immer – mit Ermittlungen nicht belästigt  ■ Von Thomas Scheuer

Berlin (taz) – Ob des Bonner Rätsel-Karussells um vermeintliche Ostagenten kann einem schwindlig werden. Da lancieren Regierungsleute den Namen des Alt-SPD-Politikers Karl Wienand als vermeintlichen Spion. Erst nach mehrtägigen Schlagzeilensalven vernimmt die Bundesanwaltschaft den Mann und leitet am Freitag ein Ermittlungsverfahren ein – um dann sogleich am Samstag wieder mitzuteilen, der Anfangsverdacht gegen den SPD-Mann habe sich verflüchtigt, das Verfahren werde wohl eingestellt. Als Ersatzmann präsentierte die Bundesanwaltschaft am Wochenende einen 62jährigen Ex-Stasi-Offizier mit dem Decknamen „Krüger“; der habe die SPD ausspioniert und sei jetzt verhaftet worden. Seine Informationen habe er teilweise dadurch gewonnen, daß er den mit ihm bekannten Karl Wienand ausspähte; der aber habe von der Stasi-Tätigkeit des Mannes nichts gewußt.

Angesichts der Bonner Stasi- Spione-Phobie mutet es seltsam an, daß in dieser Republik Menschen leben, die offenbar intimste Kenntnisse über Aktivitäten der DDR-Spionage haben, aber bislang noch nicht einmal vernommen wurden. Der Hamburger Kaufmann Peter Lüdemann ist so ein Mensch. Ins Ostgeschäft geriet er als Mitarbeiter des Kaufmannes Horst Bosse aus Bad Honnef am Rhein. Letzterer kam in der DDR unter mysteriösen Umständen ums Leben. Horst Bosse galt in den 60er Jahren als ausgewiesener Experte für das DDR-Business. Daß es dabei nicht immer ganz korrekt zuging, belegen Prüfberichte der Zollfahndung aus den 60er Jahren, in denen von finanziellen Unregelmäßigkeiten, etwa überhöhten Provisionen im innerdeutschen Handel die Rede ist. Das Haus des Ost-West-Händlers Horst Bosse in Bad Honnef war regelmäßig Schauplatz vertraulicher Gesprächszirkel hochkarätiger Manager und prominenter Politiker. Bosse soll auch eng mit dem damaligen SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand befreundet gewesen sein.

Und Bosses Name taucht auch in jener Bonner Affäre auf, für die Karl Wienand mit als Namensgeber herhalten mußte: der Steiner- Wienand-Affäre. 1972 wollte der CDU-Oppositionsführer Rainer SPD-Kanzler Willy Brandt mit einem Mißtrauensvotum wegen Ostverträge stürzen. Bei der Abstimmung im Bundestag fehlten Barzel zwei Stimmen seiner eigenen Partei. Der CDU-Mann Julius Steiner stimmte für Willy – und kassierte 50.000 D-Mark. Brandt-Gefolgsmann Karl Wienand geriet in den Verdacht, Steiner bestochen zu haben. Doch die Akten des Düsseldorfer Prozesses gegen Ex-Spionagechef Markus Wolf scheinen zu belegen, daß Steiner das Geld seinerzeit direkt von der Stasi erhielt. Weiterhin im dunkeln liegt allerdings bis heute, unter welchen Modalitäten ein zweiter CDU-Mann mit seiner Stimme Willy Brandt stützte. Jedenfalls war Geld im Spiel. Und immer wenn's um Geld ging, waren Ost-West-Händler ideale Mittelsmänner.

1972, also just im Jahr der Steiner-Wienand-Affäre, kam Horst Bosse bei einem Autounfall in der DDR ums Leben. Sein Mercedes sei, so die offizielle DDR-Version, wegen überhöhter Geschwindigkeit ins Schleudern geraten. Schnell kursierten Gerüchte, Bosses Tod gehe auf das Konnto der Stasi. Wußte Bosse zuviel über deutsch-deutsche Kulissen-Interna oder gar über den Stimmenkauf für Willy Brandt? Definitive Beweise für einen Stasi-Mord an Bosse gibt es bis heute nicht, wohl aber neuerdings Indizien: Sie finden sich in einem Dossier der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) des MfS über den Hamburger Kaufmann Peter Lüdemann. Lüdemann, vormals führender Mitarbeiter Bosses, übernahm nach dem Tod des Chefs dessen DDR-Connections. Womöglich könnte Lüdemann zur Klärung von Bosses Tod beitragen. Immerhin notierte die HVA: Lüdemann „war aktiv eingesetzt im Rahmen der Sicherung operativer Maßnahmen bis nach dem tödlichen Verkehrsunfall des westdeutschen Kaufmannes Bosse. Dort hat der IM seine Zuverlässigkeit für das MfS unter Beweis gestellt, so daß es dem Gegner nicht gelang, in die Konspiration des MfS im Rahmen des Vorganges B einzudringen.“ Der Vermerk enthält zumindest ein Indiz, daß die Stasi bei Bosses „Unfall“ nachgeholfen haben könnte. Warum wohl sollte das MfS um einen Verkehrsunfall eine „Konspiration“ weben?

Ein Geschäftsführer einer DDR-Firma in Alexander Schalck-Golodkowskis „Kommerzieller Koordinierung“, der jahrelang in höchsten Ostberliner Partei- und Stasi-Kreisen verkehrte und bis zu seinem Überlaufen in die BRD den Bundesnachrichtendienst mit hochkarätigen DDR-Interna bediente, meldete zu Bosses Tod seinerzeit: „Es ist stark zu vermuten, daß Lüdemann die Hand bei dem tödlichen Unfall des Bosse im Spiel hatte.“ Zu dessen Lebzeiten sei ihm geraten worden, so berichtete der BND-Informant, sich von Bosse fernzuhalten, da dieser beim MfS „gefährlich hoch angebunden“ sei. Denkbar sei aber auch, daß Bosse „eventuell auf DDR- und BRD-Schultern trage“ – also Doppelagent sei. Vor Bosse- Nachfolger Lüdemann, meldete Pullachs Mann aus Ostberlin, habe ihn gar der legendäre HVA-General Hans Fruck persönlich gewarnt, „da jemand, der derartige Aufträge erfüllen kann, das eigentlich nur mit Wissen und Duldung maßgeblicher Kreise in der BR Deutschland tun könne. Vom Hörensagen weiß Quelle“, so das BND-Protokoll, „daß Lüdemann angeblich in Zusammenarbeit mit Karl Großmann auch Waffen aus der DDR verschiebt.“ Waren Bosse und Lüdemann Doppelagenten?

Seltsam ist es schon, daß Lüdemann völlig unbehelligt seinen Geschäften nachgeht. Immerhin wurde er laut HVA bereits 1967 „kontaktiert und auf der Grundlage politisch-ideologischer Überzeugung für eine Zusammenarbeit mit dem MfS geworben.“

Der Norddeutsche muß für Mischa Wolfs Mannen ein dicker Fisch gewesen sein: Zuständig war der HVA-Topmann Karl Großmann persönlich. Der vertraute sein Wissen nach der Wende westdeutschen Geheimdiensten an, teilweise auch Journalisten, wie man hört. Bedingung soll dabei jedoch immer gewesen sein: Der Fall Lüdemann bleibt tabu. Das scheint verständlich, wenn die Einschätzung eines HVA-Vermerks vom Januar 1988 zutrifft, in dem es über Lüdemann heißt: „Der IM verfügt über ein umfangreiches operatives Wissen und hat bzw. hatte Kenntnis von wichtigen operativen Vorgängen, die im Rahmen der HVA liefen und noch laufen. (...) Des weiteren hat der IM Kenntnis von Abschöpfungsvorgängen zu führenden Persönlichkeiten der BRD.“

Abschöpfungsvorgänge zu führenden Persönlichkeiten der BRD? Das wüßte man doch gerne genauer. Doch Lüdemann schweigt eisern. Er habe ein dermaßen schlechtes Gedächtnis, erklärte er dem Verfasser dieses Artikels schmunzelnd beim Kaffee in einer Hamburger Hotellobby; an die genannten Vorgänge und Namen könne er sich partout nicht mehr erinnern.