piwik no script img

Oberster DDR-Richter der Rechtsbeugung angeklagt

■ 78jähriger hatten 1950 neun Zeugen Jehovas wegen Kriegshetze verurteilt

Ein ehemaliger Volksrichter am Obersten Gericht der DDR ist gestern in Berlin wegen Freiheitsberaubung und gemeinschaftlicher Rechtsbeugung angeklagt worden. Wie die Justizbehörde mitteilte, wirft die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht dem 78jährigen Alfred T. vor, im Oktober 1950 an der rechtswidrigen Verurteilung von neun Angehörigen der Zeugen Jehovas mitgewirkt zu haben.

Vorwurf: Verbreitung der Zeitschrift „Wachturm“

Damals seien die Angeklagten wegen Kriegs- und Boykotthetze zu lebenslänglichen beziehungweise hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden, obwohl den Richtern bewußt gewesen sei, daß die Verurteilten keine strafbaren Handlungen begangen hätten, hieß es in der Mitteilung. Ihnen war die Weitergabe einer Sammlung von Anschriften in den USA, die Erstellung von Gebietskarten und einer Zeichnung des Flugplatzes Quedlinburg, die Mitnahme technischer Zeichnungen aus einer Werft und die Verbreitung von Haus-zu- Haus-Zetteln und der Zeitschriften Wachturm und Erwachet vorgeworfen worden. Diese Aktionen hätten weder den Tatbestand der Kriegshetze noch den der Boykotthetze erfüllt, argumentiert die heutige Anklagebehörde.

Nach DDR-Recht keine strafbaren Handlungen

Auch die öffentliche Bekanntgabe der Weigerung der Zeugen Jehovas, den Stockholmer Appell zur Ächtung der Atombombe zu unterstützen, der Weigerung, sich an den DDR-Wahlen zu beteiligen, und der öffentlich verkündete Glaube an einen gerechten Krieg zwischen Gott und dem Teufel seien auch nach DDR-Recht nicht als strafbare Handlungen zu werten gewesen. Dies sei auch dem jetzt angeklagten Richter bewußt gewesen.

Zwar habe er versucht, die hohen Haftstrafen (zweimal lebenslänglich, dreimal fünfzehn Jahre, einmal zwölf Jahre, zweimal zehn und einmal acht Jahre Zuchthaus) zu senken, gegen die Verurteilung an sich habe er aber nicht gestimmt, erklärte die Staatsanwaltschaft.

Vorsitz im Prozeß führte die „Rote Hilde“

Laut Anklage war der Angeschuldigte nach Absolvierung eines neunmonatigen Volksrichterlehrganges 1947 in den Justizdienst des Landes Sachsen aufgenommen und im Februar 1950 als Richter des Obersten Gerichts der DDR gewählt worden. Im Oktober 1950 sei er unter dem Vorsitz der mittlerweile verstorbenen Richterin Hilde Benjamin (Spitzname: Rote Hilde) und dem Richter Hans R. (ebenfalls verstorben) an dem Prozeß beteiligt gewesen. Ein Termin zur Hauptverhandlung ist noch nicht anberaumt. AP/taz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen