piwik no script img

„Ich werde alles nach Washington geben“

Wußten Gorbatschow und Bush schon im Juni 1991, daß es im August einen Putsch in Moskau geben würde? Der damalige Bürgermeister der Stadt ist davon überzeugt. Erinnerungen aus dem letzten sowjetischen Sommer  ■ Von Gavriil Popov

Am 12. Juni 1991 war zum ersten Mal in der russischen Geschichte ein russischer Präsident direkt gewählt worden: Boris Jelzin. Damit erhielten die demokratischen Kräfte des Landes das Mandat, selbst aktiv Reformen durchzuführen. Es war nicht schwer zu erraten, daß der Präsident Rußlands nun dazu verpflcihtet war, zum Angriff überzugehen – dies erwarteten von ihm jene Dutzende von Millionen Menschen, die für ihn gestimmt hatten. Und deshalb mußten die Konservativen jetzt schnell handeln, und zwar möglichst schnell, solange der neue Präsident Rußlands noch dabei war, seinen Angriff vorzubereiten. Es gab auch einen taktischen Grund: Jelzin war sofort nach den Wahlen in die USA gereist.

Schon am sechsten Tag nach den Wahlen, am 17. Juni 1991, erteilte in den ersten Morgenstunden in der Sitzung des Obersten Sowjet Lukjanow (der damalige Parlamentspräsident der UdSSR – d. Red) dem Premierminster Walention Pawlow das Wort. Dieser bat um zusätzliche Vollmachten für die Regierung. Danach lief alles nach einem offenbar fertig vorliegenden Drehbuch ab. Es traten führende Regierungsmitglieder auf, unter ihnen der KGB-Vorsitzende Krjutschkow und Verteididgungsminister Jasow. Wenn man ihre Reden heute analysiert, so unterscheiden sie sich wenig von dem, was dann im August im Namen des „Sonderkomitees für den Ausnahmezustand“ gesagt wurde. Alles deutete darauf hin, daß die Regierung ihre Zusatzvollmachten bekommen würde. Verwunderlich war allerdings, daß Gorbatschow nicht im Saal anwesend war. Daß er sich in Moskau aufhielt – das wußten alle.

Ich hegte damals keinerlei Illusionen der Art, daß Gorbatschow vielleicht nicht auf dem laufenden gewesen wäre. Schließlich waren Jasow und Krjutschkow Mitglieder seines Präsidialrates – das hieß, daß sie nach vorheriger Abstimmung handelten. Daß Gorbatschow selbst nicht anwesend war, nahm ich erst einmal als Anzeichen für die relativ geringe Bedeutung dieser ganzen Aktion mit den Sondervollmachten auf.

Das Geheimtreffen

Kaum war ich zu diesem Schluß gelangt, erfuhr ich, daß mich ein Bekannter dringend zu sprechen wünschte, der zu den höchsten UdSSR-Kreisen Zugang hatte. Die Art und Weise, wie mich dieser Vorschlag erreichte und wie es arrangiert wurde, zeugten davon, daß etwas Außergewöhnliches geschehen war. Wir trafen uns für fünf Minuten. Die Mitteilung war äußerst alarmierend: Die Regierung werde, nachdem sie die Zusatzvollmachten erhalten hätte, den Versuch unternehmen – möglichst nach irgendeiner überzeugend erscheinenden Provokation – den Ausnahmezustand verhängen. Mit allen Folgen, einschließlich der Machtergreifung des Militärs in der Provinz.

So eine Mitteilung mußte ich erst einmal überprüfen. Dafür brauchte ich Zeit. Während ich aber mit der Überprüfung beschäftigt wäre, würden die Zusatzvollmachten bereits erteilt, und danach würde der Ausnahmezustand schon keine Gesetzesverletzung mehr sein, sondern eine völlig legale Maßnahme, die sich aus den neuen Vollmachten ableiten ließe. Diese erwiesen sich somit nicht nur als Trumpf im Spiel gegen Jelzin – wie ich anfänglich geglaubt hatte – sondern als Instrument zur Beseitigung Jelzins selbst, des russischen Parlaments und all der Demokraten, die bei den Wahlen auf lokaler Ebene gesiegt hatten.

Das alles sah plötzlich sehr bedrohlich aus. Es ging um wenige Stunden. Jetzt erschien mir die Wahl des Augenblickes – in Abwesenheit Jelzins – auch nicht mehr zufällig. Und die Abwesenheit Gorbatschows bekam auch einen ganz anderen Sinn. Ich wußte ja, daß er sich nicht gern mit unpopulären Entscheidungen in Verbindung bringen ließ. Während der kritischen Minuten unlängst im Frühling, als sich die Armee und Demonstranten im Stadtzentrum gegenüberstanden, hatten Luschkow (damals Chef der Stadtverwaltung, heute Bürgermeister Moskaus – d.Red) und ich Gorbatschow über kein einziges der Regierungstelefone erreichen können und waren nur zu Janajew vorgedrungen (damals UdSSR-Vizepräsident, später einer der Putschisten).

Was also tun? Gorbatschow anrufen wäre sinnlos, denn schließlich waren seine Leute am Werk. Und dann bestand ja auch die Möglichkeit, daß mein Informant vom KGB entdeckt worden war, und daß man beschlossen hatte, ihn sich jetzt zunutze zu machen. Ich vertraute diesem Menschen, aber man hätte ihn desinformieren können, damit ich ins Rotieren geriete. Handlungsalternativen hatte ich nur wenige. Am nächstliegenden wäre es für mich, die Moskauer zu einerVersammlung aufzurufen. Doch man könnte so eine Versammlung mit Provokateuren unterwandern, die auf den Kreml zustürmen würden – und ein Handgemenge neben dem Kreml könnte dann gleich als Anlaß für die Einführung des Ausnahmezustandes dienen.

Mein Hilferuf

So blieb mir nur eines: zu bewirken, daß Jelzin vorzeitig aus den USA zurückkehrt – am besten sofort. Aber wie? Ihn anrufen? Das würde ja doch alles abgehört. Jemanden in die USA schicken? Aber das würde viel Zeit kosten: zwölf Stunden hin, dann die Unterredung mit Jelzin, ihre gemeinsame Rückkehr, da würden insgesamt zwei Tage vergehen. Es blieb nur eines: mich der US-Botschaft zu bedienen. Aber ein Hilfsgesuch an die Botschaft der USA, nach all unserer Vergangenheit, war für mich eine irgendwie unpatriotische Angelegenheit.

Ich rief Matlock an (damals US- Botschafter in Moskau – d. Red). Glücklicherweise war er da. Ich sagte, daß ich gerne auf fünf bis zehn Minuten vorbeischauen würde, um eine relativ unwichtige, aber unaufschiebbare städtische Angelegenheit zu besprechen. Matlock sagte, er würde auf mich warten. Ich setzte mich in mein Auto und war in zehn Minuten beim Botschafter. Er erwartete mich schon und wir begannen ein Gespräch über irgendein geläufiges Thema. Ich angelte mir dabei ein leeres Blatt Papier und schrieb darauf: „Man muß Boris Nikolajewitsch Jelzin sofort und dringend ausrichten, daß möglicherweise ein Staatsstreich bevorsteht und daß er unverzüglich nach Moskau starten soll.“

Matlock fuhr mit dem Gespräch fort und schrieb auf das Blatt: „Wer?“ Ich schrieb: „Pawlow, Krjutschkow, Jasow“. Der Botschafter schrieb weiter: „Ich werde sofort alles nach Washington durchgeben“. Und mündlich, sozusagen als Fortsetzung unseres Gesprächs, fügte er hinzu: „Sie wissen, daß meine Möglichkeiten begrenzt sind. Ich bin nur Botschafter. Aber ich werde alles unternehmen, was in meinen Kräften liegt“. Dann setzte er bedeutungsvoll hinzu: „Brauchen Sie persönlich irgendetwas? Wo werden Sie sich aufhalten?“ Ich antwortete: „Ich werde hier in Moskau bleiben“. Das Blatt Papier mit dem Schriftwechsel vernichtete ich sofort, als ich in meinem Arbeitszimmer ankam.

Der Zwischenruf

Währenddessen näherten sich die Debatten im Obersten Sowjet schon ihrem Ende. Die kleine Gruppe demokratisch gesinnter Abgeordneter konnte am Gang der Dinge nichts ändern. Aber durch ihre Fragen veranlaßten sie immerhin Pawlow, sich eine Blöße zu geben. Auf die Frage, wie sich die Zusatzvollmachten auf die Souveränität der einzelnen Republiken auswirken würden, antwortete er, daß er für deren Souveränität kein Verständnis hege. Mein Verdacht, daß sich die Zusatzvollmachten gegen die Republiken – und gegen Rußland im besonderen – richteten, hatte sich somit bestätigt.

Nach der Pause, als man schon zu der Abstimmung schritt, deren Ausgang im voraus feststand, passierte etwas Unerwartetes: Gorbatschow erschien im Sitzungssaal und bat um das Wort. Wie man mir mitteilte – die Sitzung war nicht öffentlich – lief sein Beitrag auf das Folgende hinaus: Er halte Pawlows Bitte um Zusatzvollmachten für verständlich, aber momentan könnte man ganz gut darauf verzichten, diese formell zu beschließen, und sich auf den vorangegangenen Meinungsaustausch beschränken. Ganz offensichtlich war in den Stunden zuvor eine entscheidende Änderung der Lage eingetreten – oder aber Gorbatschow hatte von Pawlows Plänen doch nichts gewußt und nun beschlossen, sich einzumischen.

Die Überraschung

Es war einige Zeit vergangen. Präsident Bush und seine Gattin kamen nach Moskau. Es gab allerhand festliche Veranstaltungen, darunter auch einen Empfang bei Gorbatschow. Meine Frau und ich waren eingeladen. als ich Gorbatschow begrüßte, sah er mich an und fragte in etwa: „Warum hast Du den amerikanischen Botschafter und Bush um Hilfe gebeten?“ Ich hätte beinahe die Fassung verloren, antwortete dann aber: „Ich habe niemanden um Hilfe gebeten“. Und ging.

Aus Gorbatschows Worten folgte, daß er etwas wußte. Aber was? Den Worten folgte, daß seine Informationen ungenau waren, wie schon des öfteren in der Vergangenheit – tatsächlich hatte ich mich ja nicht an Bush gewandt, ich hatte darum gebeten, meine Bitte an Jelzin weiterzuleiten, und hatte dabei auch den Grund meiner Bitte erläutern müssen. Zweitens: Von wem hatte Gorbatschow etwas erfahren können?

Ich sprach mit Matlock, der den Botschafterposten in Moskau bereits verlassen hatte. Folgendes Bild ergab sich: Matlock hatte in Washington angerufen und die Informationen durchgegeben, und die wurden sofort auch Präsident Bush unterbreitet. Und der, anstatt meine Bitte zu erfüllen und die Informationen unverzüglich an Jelzin weiterzuleiten, hatte sofort Gorbatschow angerufen. Jelzin aber berichtete man von meiner Visite erst nach Gorbatschows Auftritt vor dem Obersten Sowjet, nachdem die Frage der Zusatzvollmachten schon von der Tagesordnung war. Von dem Anruf Bushs bei Gorbatschow hatte man Jelzin nichts gesagt. Meine Bitte mußte ihm so gesehen nicht sehr motiviert erschienen sein, aber Jelzin hatte seinen Aufenthalt in den USA dann immerhin abgekürzt.

Mein Verdacht

Gorbatschow hatte Bushs Anruf sehr erregt. Vielleicht war er sich auch der Richtigkeit des Weges nicht sicher, auf den ihn Pawlow, die Minister, das ZK der KPdSU gestoßen hatten. Er begriff natürlich, daß er sich nach Bushs Anruf von späteren außerordentlichen Aktionen nicht mehr würde distanzieren können. Und die Schuld auf jemand anders abwälzen konnte er auch nicht mehr, denn schließlich hatte ihn Bush selbst gewarnt. Er konnte es sich also nicht mehr leisten, tatenlos herumzusitzen. Wenn er jetzt nicht aktiv gegen die Aktionen Pawlows einschritte, würde er in den Zeitungen der ganzen Welt als Urheber sämtlicher folgender „harter“ Maßnahmen dastehen. Vielleicht hatte er auch Angst daß der ganze Plan schon an die USA verraten und sogar schon zur Gänze den Demokraten in der UdSSR bekannt war.

Angesichts all dessen war es für Gorbatschow unzulässig, sein Image mit Ausnahmemaßnahmen zu verbinden. Er wußte, daß ihn die Konservativen allein wegen seiner internationalen Autorität duldeten. Falls er dieses Kapital verlöre – und dazu würde ein Ignorieren der Warnung Bushs führen – bräuchten sie ihn nicht mehr.

Gorbatschow hatte zu verstehen gegeben, daß ihn Bush von meinem Vorgehen in Kenntnis gesetzt hatte. Falls Bush Gorbatschow damals nicht meinen Namen genannt hatte, so muß er ihn später genannt haben. Wohl kaum hätten so etwas derart erfahrene „Wölfe“ der Diplomatie fertiggebracht wie Baker (damals US-Außenminister – d. Red) oder Matlock. Außerdem wußten diese genau, was mir nach einer derartigen Eröffnung drohen konnte. Das heißt also, meinen Namen hatte niemand anders als Bush ausgeplaudert – verwunderlich, denn schließlich war er ja einmal CIA- Chef und mußte wissen, daß man die Quelle einer solchen Information nicht herausposaunt.

Das Ganze hat bei mir einen deprimierenden Eindruck hinterlassen. Statt Jelzin hatte man Gorbatschow angerufen. Und weder Bush noch Gorbatschow kamen später je wieder auf diese Angelegenheit zu sprechen. Für beide wäre eine öffentliche Erinnerung daran sichtlich unvorteilhaft gewesen – hätte es doch bedeutet, daß schon im Juni beide von der Möglichkeit eines Putsches in der UdSSR wußten und überhaupt nichts unternahmen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen