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Der Sturz des Königs

Carl Lewis (32) wurde nur Vierter im 100-Meter-Lauf / Linford Christie (33), der neue Weltmeister, fühlt sich wie der Mann im Mond  ■ Aus Stuttgart Cornelia Heim

Zürich 1960 im Letzigrund, Armin Hary läuft 10,00 Sekunden. Und läuft sie nochmal, weil die Zeitnehmer ihren Uhren nicht glaubten. 33 Jahre später lebt der schnellste deutsche Sprinter in Possenhagen. Und weiß, damals wie heute steht das Finale der Sprinter im Mittelpunkt des Interesses. Im Grunde genommen hat sich kaum etwas geändert: „Die Sprinter heute sind auch nicht viel schneller.“

Wann schießt er endlich? Die acht Muskelpakete sind gefangen: 40.000 Augenpaare lassen sie nicht mehr los. Diese stieren stur geradeaus, als ob die Männer links und rechts nebendran die Pest hätten. Als ob sie ihrem Ziel, diese weiße Linie in 100 Meter Entfernung als Sieger zu überqueren, durch bloße Antizipation näherkommen könnten. Schon seit Tagen ist das Rennen zum Psychokrieg eskaliert. Stilisiert wurde diese Hatz nach der Sprint-Krone mehrfach: Zum Senioren-Duell Lewis (32) gegen Christie (33), zum Duell der Nationen – ein Brite gegen drei Amerikaner (Carl Lewis, Dennis Mitchell, Andre Cason). Oder gewinnt doch ein Außenseiter? Daniel Philip, der Nigerianer, der nach Dopinggerüchten kurzerhand seinen zweiten Namen annahm, Daniel Effiong. Oder Frankie Fredericks, der Silbermedaillen-Gewinner von Barcelona, der Namibianer vom Volk der Nama, das die deutschen Kolonialherren Hottentotten nannten.

Die Luft im Gottlieb-Daimler- Stadion ist geladen. Gewitterschwüle. Verbal wurde vorab aufgerüstet: „Ich bin physisch in besserer Verfassung als 1991“, ließ Carl Lewis, der Titelverteidiger von Tokio, die Welt wissen. In Japan lief er Weltrekord – 9,86 Sekunden – in einem sensationellen Rennen, in dem sechs Sprinter die Schallmauer von zehn Sekunden durchbrachen. Linford Christie hat sich in Stuttgart zurückgehalten, keine Pressekonferenzen, keine Interviews, kein Luxus. Er wohnt sogar im wegen seiner Schäbigkeit scharf kritisierten Athletendorf, um als Kapitän der Nationalmannschaft Vorbild zu sein. Keine Show-Einlagen, kein verbales Säbelrasseln, aber harte Arbeit. Er tyrannisierte die Rivalen der Rennbahn mit einem einzigen stereotypen Satz: „Ich bin der Olympiasieger.“ Was soviel heißen soll, wie „keiner ist besser“.

Die Anspannung der acht Sprinter überträgt sich auf das Stadion. Kein Räuspern, kein Hüsteln. Da ist er, der Schuß. Die Erlösung. Ein befreites Raunen auf der Tribüne. Die Statuen in den Startblöcken explodieren zu Leben. Sie rennen, schmeißen die Arme nach vorn, blasen die Backen auf.

Dennis Mitchell hat den besten Start erwischt. Seine Reaktionszeit: 0,123 Sekunden. Lewis mit Christie gleichauf. Andre Cason, der 1,70 m kleine „Little Big Man“, rast mit seinen kleinen Schrittchen, im Takt einer Nähmaschine. Vor den Olympischen Spielen hat er sich bei den US-Trials die Achillessehne gerissen, nach elf Monaten startete der 70-Kilo-Mann sein Comeback. Und wie: Vorlaufschnellster war er, zweimal unter zehn Sekunden. Er könne gar nicht anders, brauche den katapultartigen Start, analysierte Leroy Burell von der Tribüne aus den Laufstil des Mannes mit der hohen Schrittfrequenz. Aufgrund seiner geringen Schrittlänge könne er hinten hinaus wenig zulegen. Hinten, da, wo für Carl Lewis gewöhnlich das Rennen erst beginnt.

Doch, was ist das? Wo bleibt der Star? Carl Lewis kann keinen Gang mehr zulegen. Christie heißt der Weltmeister, Christie, der Cason noch abfängt. Der Brite reckt die Faust in die Höhe, klatscht, zeigt zum ersten Mal nach drei Rennen, die er mit der Haltung der antiken Stoa absolviert hat, Gefühl: „Ich fühle mich wie auf dem Mond, diese Zeit!“ 9,87 Sekunden – Europarekord, nur ein Hundertstel über dem Weltrekord. Persönliche Bestleistung auch für Andre Cason: 9,92 Sekunden. Die beiden fallen sich um den Hals, laufen die Ehrenrunde. Der Brite und der Amerikaner, den die anderen, vor allem die vom Santa Monica Track Club, immer etwas belächelten. Denis Mitchell (9,99) geht zu Carl Lewis (10,02). Sie sitzen auf der Tartanbahn. Geschlagen.

Drei Weltmeistertitel über 100 m hat „Carl, der Große“ geholt. Im vierten Lauf reichte es nicht einmal zur Medaille: „Ich habe viele gute Jahre gehabt, jetzt gehe ich nach Hause und baue mein Haus zu Ende.“ Das Ende einer glanzvollen Karriere? „Nein, nein.“ Besonders im Weitsprung, den er in Stuttgart wegen einer Rückenverletzung nach einem Autounfall abgesagt hatte, habe er noch Großes vor. Lewis: „Meine besten Weiten habe ich noch nicht erreicht.“ Er müsse zwar härter trainieren als in jüngeren Jahren, es mache ihm aber mehr Spaß, weil alles emotionaler geworden sei. Abgeklärt wirkte der geschlagene Star auch in der Stunde seiner Niederlage: „Wenn ich jünger wäre, hätte ich vielleicht Probleme, dies hier zu verarbeiten.“ Aber so habe diese Rivalität mit Christie doch ein Gutes: Sie sei Kindern ein Beispiel, daß man auch im fortgeschrittenen Alter noch Spitzenleistung bringen kann.

Einer hatte erst in einem Alter am Erfolg geschnuppert, in dem andere ihre Spikes bereits wieder einpacken: Linford Christie. Mit 26 gewann der in Jamaika geborene ehemalige Jugendarbeiter in West- London seine erste Medaille außerhalb der Insel. Im Juni 1991 kündigte er seinen Rücktritt an. Damals meinte der 32jährige: „Nur Ben Johnson und wenige andere werden reich in diesem Sport.“ Reich ist er in ganz kurzer Zeit auch geworden. Und ans Aufhören denkt er nicht mehr.

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