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Hilfe, meine Tochter wird erwachsen!

■ Ein Buch über weibliche Adoleszenz: Fließendes Sprechen über Menstruation und Magersucht, leider schleichende Verstocktheit, wenn es um Spaß am Sex geht

Wie werden kleine Mädchen groß? Im Märchen von Hans Christian Andersen geht das – folgt man den Deutungen der Psychoanalytikerin Eva Poluda-Korte – etwa so: Die kleine Seejungfrau verliebte sich in den Prinzen, der ins Wasser gefallen war. Kaum hatte er sich zurück ans Land gerettet, ließ sich die Zurückgebliebene aus Liebe den Seejungfrauenschwanz in zwei Beine zerteilen. („Die Liebe schneidet ihr tief ins Fleisch und öffnet ihr Geschlecht.“) Der Prinz aber verliebte sich in ein Erdenkind. („Die Unbedingtheit ihrer Hingabe hat sie ihrer aggressiven Potenz beraubt.“) Die kleine Seejungfrau tötete die andere nicht. Sie ging zurück ins Meer und löste sich in Schaum auf. („Sie verbindet sich mit dem mütterlichen Element, das sie in der Konkurrenz nicht besiegen konnte.“)

„Weibliche Adoleszenz“ heißt es, das Buch „Zur Sozialisation junger Frauen“. Es soll Aufschluß geben über die Körper- und Selbsterfahrung heranwachsender Frauen, will Klartext reden über Menstruation, Selbstbefriedigung, the joy of sex. Das Frauenbild, das in den Beiträgen des ehrgeizigen Konzepts sichtbar wird, ist – bis auf einige somnambule Menstruations-Subtilitäten – wohlerwogen, vernünftig-aufgeklärt, politically correct. „Autonome, selbstbestimmte Weiblichkeit sollte nicht mit der falschen Unabhängigkeitsvorstellung, die bestimmten Männerattributen das Wort redet, gleichgesetzt werden“, lautet das Credo, dem unumwunden zuzustimmen ist. Aber auch in der routinierten Wissenschaftlichkeit der wise women gibt es Schwebstoffe kleiner Mythen, die bei der Lektüre immer wieder zum Niesen reizen.

Es gehört zu den interessanteren Widrigkeiten dieses Buches, daß das Erwachsenwerden von Mädchen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen soll, dies aber weitestgehend von den Tribünenplätzen der Mütter, Wissenschaftlerinnen oder Therapeutinnen aus geschieht. Die Betroffenen selbst kommen allein im Beitrag von Jansen und Jockenhövel-Poth über das dialektische Verhältnis von Mutterbindung und -trennung zu Wort. Das Buch sollte also vielleicht richtigerweise „Hilfe, meine Tochter wird erwachsen!“ heißen. Der wissenschaftliche Duktus mitsamt wucherndem Zitatenschatz und Literaturangaben sorgen dafür, daß es wiederum nur Mütter, Therapeutinnen und Wissenschaftlerinnen sein werden, die das Buch mit Begeisterung lesen.

Es gibt zwei Ausnahmen, die allerdings so bestechend sind, daß sie alle Unebenheiten des 260 Seiten starken Werks vergessen lassen. Annegret Overbecks Beitrag zum Thema „Körper, Kreativität und Weiblichkeit“ legt anhand des Frankenstein-Romans von Mary Shelley dar, wie Schöpfungsphantasien magersüchtiger Mädchen funktionieren. In wenigen Sätzen sagt Overbeck das Wesentliche. „Mich hat etwas Unheimliches gefesselt: Die archaische Aggression, die im Gewand positiver Werte daherkommende Negation, das Ideal der Lebendigkeit und Reinheit der Metamorphose zum Toten und Abgestorbenen hin. Magersuchtbehandlungen sind immer von einer tödlichen Gefahr überschattet. Die narzißtische Besetzung des Körpers kann aufgegeben werden (...). Das Ich hält sich fern vom Körper – entmaterialisiert – nun für unsterblich und gibt den Körper der Vernichtung preis.“

Der andere exzellente Beitrag stammt von Christina von Braun, die die Krankheit Anorexie geistesgeschichtlich einordnet. Minutiös erklärt Braun, warum bereits die Askese von Frauen des Mittelalters mehr mit Autonomie, Willensstärke und Verweigerung der Männergesellschaft zu tun hat als mit der so oft beschworenen, unspezifischen Ich-Schwäche magersüchtiger Mädchen. Denn im Gegensatz zu Mönchen fasten zum Beispiel Nonnen nicht, um sich vor Verführung von außen zu wappnen, sondern um die eigene Begierde, den Anreiz zur Sünde, der von innen kommt, abzutöten. Die Vereinigung mit Gott und die Verweigerung irdischer Sexualität geschieht im 14. Jahrhundert erstmals über den Umweg der Nahrungsverweigerung... Im 20. Jahrhundert schließlich ist aus gutem Grund gerade der Hungerstreik, das Körperlich-Werden des absoluten Neins, eines der wirkungsvollsten Kampfmittel der Frauenbewegung geworden. Er kann tatsächlich erst „in einer Gesellschaft wirksam werden, die sich selbst als Übermutter begreift, mit all jenen Funktionen von Kontrolle und Fürsorge, die damit einhergehen“.

Es ist wohl kaum zufällig, daß sämtliche Beiträge des Bandes zu Eßstörungen in bestechender Klarheit und Strenge formuliert sind, während die Texte zur Menstruation gefühlsmanieriert und gesinnungspathetisch bleiben. Helga Haase beispielsweise setzt sich zum Ziel, „die verborgene Bedeutung des (Menstruations-) Tabus“ in modernen Mutter-Tochter-Beziehungen zu demaskieren. Die Beispiel-Tochter, Maritta, ist ein besonders prächtiges Exemplar ihrer Gattung: „Ich will dieses zusätzliche Loch da, diese Scheide überhaupt nicht haben.“ Gudrun, die Mutter, möchte das Problem Monatsblut praktisch lösen und rät der Tochter bald darauf zum Mini-Tampon. Maritta bittet die Mutter, es zu tun. Gudrun wendet sich pikiert ab. Dazu Helga Haase messerscharf: „Gudrun verweigert der Tochter die Anerkennung ihrer Sinnlichkeit aufgrund tabuisierter, inzestuöser homo-autoerotischer Wunschphantasien. Sie schiebt eine rigide heterosexuelle Norm als ein Drittes, Fremdes, zwischen sich und die Tochter.“ Derweil sitzt der Vater, namenlos, voll liebevoller Anerkennung abends an Marittas Bettrand: „Jetzt bist du groß, meine große Tochter.“ Die Analytikerin folgert: „Er verhindert ihr Verkriechen und mischt sich in das Menstruationsgeschehen seiner Tochter ein.“ Paradoxer Schluß: Natürlich kann Maritta nur ein gestörtes Körperverhältnis entwickeln, denn sie macht alles richtig und die Eltern alles falsch. Bei so viel Scharfsinn leistet man Abbitte an all jene Großmütter, die noch glaubten, das erste Monatsblut in den Röcken hätte ihnen der Sturz vom Kirschbaum eingebrockt.

Karin Flaake und Vera King, die beiden Herausgeberinnen, wissen zwar sehr genau, daß Sigmund Freud „Weiblichkeit stets unter dem Gesichtspunkt defizitärer Männlichkeit“ verstümmelt hat. Sie wenden sich daher gegen jeden „phallischen Monismus“ und das Klischee, die Pubertät wiederhole lediglich frühkindliche Konflikte. Doch die Buchbeiträge, die sie zuletzt ausgewählt haben, sind weder in puncto weibliche Genitalität noch Sexualität überzeugend. Es gibt kein Zeugnis von Mädchen, die über lustigen Sex oder sexuelle Lust sprechen, es gibt vor allem – immer noch – keinen vaginalen Orgasmus.

Erquicklicher könnte das Mammutwerk sein, dürften sich Ketzerinnen zu Wort melden, kognitive Psychologinnen, Psycholinguistinnen oder Philosophinnen. Da den Herausgeberinnen aber der feucht-warme Theorieschoß von Psychoanalyse, Entwicklungs- und Sozialpsychologie genügte, bleibt in diesem teilweise hochinteressanten Buch der emanzipatorische Anspruch, die Rede von „weiblichem Lebensentwurf, Resonanzraum und Lustmöglichkeit“ seltsam befremdlich, abstrakt. Lebendig erscheint da zuletzt nur Andersens kleine Seejungfrau und ihre Liebe zum Nichtschwimmer-Prinzen, ihre durch nichts in der Welt wiedergutzumachende Vergeblichkeit. Mirjam Schaub

Karin Flaake/Vera King (Hrsg.): „Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen“. Campus-Verlag 1992, 280 Seiten, 38 DM

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