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Interdisziplinäre, wilde Ordnung

■ Greil Marcus' Soundtrack zu seinem Buch „Lipstick Traces“

Am 14. Januar 1978 sah der damals 32jährige Greil Marcus in San Francisco das allerletzte Konzert der Sex Pistols. Diese erschütternde Erfahrung nahm der hochdekorierte Popkritiker – sein „Mystery Train“ wird gern zum All Time Greatest Rockbuch erklärt – zum Ausgangspunkt für „Lipstick Traces – Von Punk bis Dada – Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert“ (Rogner&Bernhard). Auf fünfhundert Seiten forscht Marcus längst verblaßten situationistischen, lettristischen und Punkrock-Lippenstiftspuren hinterher. Auch wo es nicht ausdrücklich um Musik geht, ist das Buch in einer ähnlichen Weise popkulturdurchdrungen, wie es ein gutes Jahrzehnt vorher Theweleits „Männerphantasien“ waren. Über frappierend erhellende Erkenntniserlebnisse, die Marcus' Genre- und Geschichts-Hopping bescheren kann, ist viel geschrieben worden – so weit, so richtig. Der „Soundtrack“ zu „Lipstick Traces“ folgt auf den ersten Blick der interdisziplinären „wilden“ Ordnung des Textes. Punkrock-Klassiker der Buzzcocks, Adverts, Gang Of Four, Mekons; Punkrock-Fußnoten, Bühnenatmo, Fetzen, Dokumente aus Arbeiten von Tzara, Hülsenbeck, Debord und anderen; schließlich der Titeltreck, gesungen von Benny Spellman, ein 1948er R&B-Hit der Oriotes und ein Dada-Gedicht, vorgetragen vom Ex-Kinderstar Marie Osmond. Mit dem Soundtrack weist Marcus sehr deutlich auf einen besonderen Aspekt der Punkgeschichte hin und versucht gleichzeitig, ein großes Versäumnis seiner eigenen Geschichte auszugleichen: „Das Auslassen von Frauen in ,Mystery Train‘ ist ein gedankenloser, sexistischer..., ich wollte sagen: Fehler, aber das Wort ist zu schwach dafür“ (Marcus in einem ausführlichen Interview in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Heaven Sent). Tatsächlich findet der „Traum von Amerika in Liedern der Rockmusik“ (Untertitel), den Marcus im vielgelobten „Mystery Train“ nacherzählt, ohne Frauen statt. Die Geschichte wird geschrieben von Sly Stone, Robert Johnson, Elvis und anderen Männern. Dagegen eignet sich die Geschichte des britischen Punk bestens, diesen sexistischen Ausfall zu korrigieren. Diese Sammlung sei auch dazu da, Punk zu rekonstruieren im Sinne einer verborgenen weiblichen Geschichte, schreibt der englische Kritiker Jon Savage in den Linernotes. In dem Sinne also, daß erstmals im Punk Frauen außerhalb der traditionellen (Rock-) Rollen Mutter/Hure, Folksinger/Rockröhre agiert haben. Für diese antipatriarchalische Rekonstruktionsthese stehen auf der Platte die Slits, die Raincoats, Essential Logic und insbesondere die von Marcus geliebten Schweizerinnen Kleenex (die sich nach einer Intervention des gleichnamigen Papiertaschentuchherstellers in Liliput umtaufen mußten). Die Musik hat – wie man so sagt – nichts verloren von ihrer Energie, und so frage ich mich aber, ob diese gutgemeinte retrospektive Aufwertung der „hidden female history“ sich nicht doch dem Marcusschen Drang zur Überkompensation verdankt. 1977 – how female was it? Klaus Walter

Various Artists: „Lipstick Traces“, (Rough Trade)

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