: Eine Frage des politischen Willens
■ Kranke Wälder könnten wieder gesunden
Rund zwei Drittel aller Bäume in Deutschland sind krank oder bereits abgestorben. Wenn Industrie und Landwirtschaft, Kraftfahrzeuge und Haushalte die Luft weiterhin so stark vergiften wie bisher, wird der saure Regen in absehbarer Zeit alle Wälder zerfressen haben. Was aber, wenn es gelingt, die Umweltbelastungen entscheidend zu reduzieren? Kann sich der Wald dann wieder erholen? Und falls ja, wie lange dauert das? WissenschaftlerInnen der Universität Göttingen gehen diesen Fragen derzeit in einem bundesweit einmaligen Experiment nach.
Die Versuchsflächen für das vom Forschungszentrum Waldökosysteme koordinierte Projekt liegen rund fünfzig Kilometer nordwestlich von Göttingen in den Hochlagen des Sollings. Die hier wachsenden Fichten sind fast alle mittelschwer geschädigt. 1989 wählten MitarbeiterInnen des Forschungszentrums eine 900 Quadratmeter große Fläche des landeseigenen Forstes aus, teilten sie in drei „Kammern“ auf und überdachten sie in einer Höhe von vier Metern mit Plexiglas. Die Bäume wachsen also durch diese Abdeckung hindurch, Gummimanschetten dichten die Löcher für die Stämme ab. Der im Solling niedergehende Regen wird auf den Dächern aufgefangen und über Rinnen zunächst in Vorratstanks abgeleitet. Ziel des Versuchs ist es, in den einzelnen Hallen verschiedene Umweltbedingungen zu simulieren und die jeweiligen Reaktionen der Bäume zu testen.
Unter dem ersten, dem sogenannten „Null-Dach“, herrschen nahezu dieselben schlechten Bedingungen wie im Freien. Der belastete, „saure“ Regen wird unmittelbar und ohne weitere Behandlung über eine Sprinkleranlage wieder abgeregnet. Diese Konstruktion dient im wesentlichen der Überprüfung von Dachkonstruktion und Beregnungsanlage.
Interessant ist vor allem das „Entsauerungs-Dach“. Die aufgefangenen Niederschläge werden in einer Entsalzungsanlage demineralisiert, anschließend mit einer Nährstofflösung und mit Natronlauge versetzt und unter dem Dach wieder verregnet. Die Zusammensetzung dieses Wassers, das hat der Koordinator des Projekts, Kai Blanck vom Institut für Bodenkunde, errechnet, „entspricht dem Regen von vor 200 Jahren, bevor die großtechnischen Verbrennungsprozesse einsetzten“.
Die ersten, jetzt bekannt gemachten Ergebnisse deuten darauf hin, daß das saubere Wasser dem belasteten Waldboden offensichtlich sehr gut bekommt. Unter dem Dach seien „deutlich verringerte Schwefel- und Stickstoffwerte“ festgestellt worden, so Blanck. Zwar seien die Resultate noch nicht statistisch abgesichert, aber: „Wenn sich das bestätigt, was wir sehr stark annehmen, dann wäre das in der kurzen Zeit eine erstaunlich schnelle Erholung des Waldbodens.“ Bis Mitte der neunziger Jahre, glaubt der Wissenschaftler, könnten „unter dem Entsauerungsdach auch die Bäume wieder ergrünt sein, die jetzt alle total gelb und krank sind“.
Eine Genesung der kranken Wälder scheint also möglich. Die Voraussetzung dafür wäre allerdings eine rasche und radikale Reduzierung der Schadstoffbelastungen in der Luft. Gerade weil die wissenschaftlichen Prognosen zu „verhaltenem Optimismus“ Anlaß gäben, ist politisches Handeln für Blanck und seine KollegInnen um so mehr angesagt: „Um einen Regen zu schaffen, der eine Genesung der Bäume zuläßt, müßten in einem ersten Schritt die Abgase aus dem Autoverkehr und die Emissionen aus der Landwirtschaft um sechzig Prozent verringert werden.“ Technisch sei das kein Problem, „das ist allein eine Frage des politischen Willens“.
Das Projekt im Solling beinhaltet noch einen weiteren Aspekt. Unter dem „Austrocknungs- und Wiederbefeuchtungsdach“ riskieren die Göttinger ForscherInnen einen Blick in die Zukunft, indem sie lange Trockenperioden mit anschließenden starken Niederschlägen simulieren — ein Klima also, wie es für die kommenden Jahrhunderte häufig prognostiziert wird. Der Waldboden unter diesem Dach hat seit über vier Monaten keinen Regentropfen mehr gesehen; jetzt sollen die gesamten, seither in Vorratstanks gesammelten Niederschläge ausgebracht werden. Konkret soll hier die wissenschaftliche These von den sogenannten „internen Versäuerungsschüben“ überprüft werden: Wenn ausgetrockneter Erdboden schnell wieder befeuchtet wird, beginnen die Lebewesen im Boden selbst mit der Produktion von Salpetersäure und Stickstoff, was wiederum zu einer erheblichen zusätzlichen Versauerung und Belastung des Erdreichs führt. Reimar Paul
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