piwik no script img

„Unsere ganze Generation ist Kind der RAF“

■ Astrid Proll, Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion, sprach für das Magazin „Tempo“ in New York mit Felix Ensslin, dem Sohn ihrer einstigen Kampfgefährtin Gudrun Ensslin: über seine schwierige Biographie, die Revolte des Jahres 1968, über sein Leben in New York

Astrid Proll: Seit wann interessiert du dich für Politik?

Felix Ensslin: Politik als solche und erst recht linke Politik war in meinem Elternhaus kein Thema; auch nicht für meine Schwestern, die alle älter sind als ich und von denen zwei Violinistinnen geworden sind. Mein Pflegevater war Landarzt, meine Pflegemutter Kirchenmusikerin. Politik ist bei mir ganz eng mit meiner Biographie verbunden und mit den Ereignissen 1977 in Stammheim, dem Tod von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und von Gudrun. Ich bin 1977 innerhalb von zwölf Monaten als ein relativ benebelter Dorfbube in einer ganz anderen Realität aufgewacht.

Wie hast du das damals bewältigt?

Es gab nur zwei Möglichkeiten: Ich konnte entweder sagen: ich möchte damit überhaupt nichts zu tun haben, ich habe jetzt ein anderes Elternhaus, und meine eigentliche Mutter Gudrun und die RAF existieren für mich nicht. Das war aber nicht möglich, weil das ständig durch die Medien präsent war. Oder ich konnte mich gegen ihre absolute Verurteilung wehren, und die einzige Möglichkeit war dann, mich damit zu identifizieren und es positiv zu sehen. Wenn ich es nicht verteidigt hätte, hätte ich damit leben müssen, daß ich ein Monstersohn bin. Was mir damals als Zehnjähriger viel Schmerzen bereitet hat, hatte nichts mit Gudrun zu tun. Ich habe es als absolut schmerzhaft empfunden, daß ich 1977, nachdem ich schon sechs Jahre in der Familie meiner Pflegeeltern war, die Identifikation mit der Familie Seiler nicht mehr aufrechterhalten konnte. Das war für mich ein Bruch. Ich wurde von außen in meine eigene Geschichte geholt, nicht von innen. Ich hatte davor nie Fragen gestellt, warum auf meinem Schulzeugnis ein anderer Name stand als der, den ich jeden Tag trug, oder warum meine Großeltern, die Eltern von Gudrun, nicht die Großeltern meiner Schwester waren.

Welche Rolle spielen deine natürlichen Eltern in deinem Leben?

Die Rollen, die Gudrun Ensslin und Bernward Vesper in meinem Leben spielen, sind sehr unterschiedlich. In einer gewissen Weise ist Bernward viel wichtiger für mich. Zum einen war er länger da, zum anderen läuft die Auseinandersetzung mit seinem Buch „Die Reise“ konkreter als die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Gudrun. Viele Erinnerungen, von denen ich heute weiß, sind nicht meine Erinnerungen, sondern die anderer Menschen. Fest steht, daß Bernward, bevor er 1971 in der Psychiatrie in Hamburg Selbstmord begangen hat, eine große Präsenz in meinem Leben hatte. Oft habe ich vor anderen über ihn geredet, ich habe nach ihm gefragt, und er hat mich oft besucht. Für meinen Vater war es anscheinend ein gutes Arrangement. Er konnte mich immer in Undingen besuchen und auch wieder gehen. Er glaubte sicherlich, für mich sei es besser, in der Familie zu leben als mit ihm. Eigentlich lebe ich seit meinem zweiten Lebensjahr in der Pflegefamilie. Bernward hatte in dem Haus ein Arbeitszimmer. Ich hatte ihn Vater genannt. Doch nach seinem Tod hatte ich das alles wieder vergessen.

Die Scheiße kam um 1976 wieder hoch, als die Kinder in Undingen auf der Straße um mich herumradelten und schrien: Deine Mutter ist im Gefängnis. Ich sage, ihr seid blöd, meine Mutter ist zu Hause in der Küche. Es war im ganzen Dorf bekannt, nur mir nicht.

Wann ist dir endgültig klar gewesen, daß deine Mutter nicht in der Küche steht, sondern als Staatsfeindin Nummer eins im Gefängnis saß?

Eine meiner Schwestern hat mich aufgeklärt. Danach habe ich mich wieder an Bernward erinnern können, und es hat sich das Verhältnis zu meiner Pflegefamilie geändert. Ich bin offensiv geworden. Ich habe nicht gewartet, bis mir einer reindrückt, daß ich das Kind von Gudrun Ensslin bin, sondern ich habe es den anderen reingedrückt. Ich versuchte außerdem damit klarzukommen, daß das Fahndungsfoto, das ich seit Monaten und Jahren gesehen hatte, irgend etwas mit mir zu tun hat. Abends schaute ich in den Nachrichten bei Freunden – was ich nicht zu Hause tun konnte, weil wir keinen Fernseher hatten, sicher wollten meine Pflegeeltern in der Zeit keinen Fernseher im Hause haben – dieses Foto an. Es war eines von den drei Fotos, die man immer sehen konnte, und ich ahnte, daß dieses Foto irgend etwas mit mir zu tun hat. Es hat vage Erinnerungen bei mir ausgelöst. Ich erinnerte mich, daß meine Großeltern mir Bilder von Gudrun gezeigt hatten. Persönliche Erinnerungen an Gudrun habe ich nicht.

Während der Schleyer-Entführung – das Ganze war damals für mich wie eine Sportveranstaltung, man weiß nicht, wie es ausgeht, und unterstützt seine Favoriten – habe ich sehr auf die Freilassung von Gudrun gehofft. Mit meinen zehn Jahren war mir nicht klar, daß es damals nur die Alternative gab, entweder sie kommt raus oder sie ist in den nächsten Wochen tot. Irgendwie war mir aber auch klar, wenn sie da nicht rauskommt, habe ich keine Chance. Wahrscheinlich bin ich durch den ganzen Medienrummel um die Entführung wach geworden, und ich entwickelte das Bedürfnis, sie zu treffen und kennenzulernen.

Haben andere Menschen mit dir darüber geredet?

In meiner Umgebung war das Thema tabu. Kein Erwachsener hat mich darauf angesprochen. Was hätten sie auch sagen sollen? Wir wünschen, daß deine Mutter verreckt? Meine Reaktion auf Stammheim war, mich um so mehr damit zu identifizieren, zu sagen: Ich bin Felix Ensslin, ich bin der Sohn von Gudrun Ensslin. So konnte ich meine Umwelt ausdifferenzieren.

Wie kam es zu deinem folgenschweren Unfall?

In Undingen gibt es einen stillgelegten Steinbruch, zu dem andere Kinder und ich oft hingegangen sind, um Fossilien zu sammeln. Ein Teil davon wurde auch als Müllhalde benutzt. Eines Tages sind ein Nachbarsjunge und ich dorthin gegangen, um Steine zu klopfen. Einer der Steine, auf den ich geklopft habe, war wohl kein Stein, sondern ein Salzsäurebehälter. Ich schlug darauf, und er explodierte. Dann bin ich nach Hause gerannt, nur gerannt. Es war vielleicht einen Kilometer. Auf der halben Strecke habe ich angefangen zu schreien ohne Ende: Hilfe, Hilfe, Hilfe. Der andere Junge hatte nur sehr wenig abbekommen und verstand nicht, daß ich große Schmerzen hatte. Mein Vater hielt gerade seine Sprechstunde ab, und ich ging durch die Tür, mein Gesicht ganz angeschwollen, rot, verätzt. Er ist fast in Ohnmacht gefallen, ich kam gleich ins Krankenhaus.

Das Unheil, der Schrecken, den deine Pflegeeltern von dir fernhalten wollten, kam ihnen letztlich doch ins Haus gelaufen.

Wie alle anderen Eltern wollten sie generell Unheil von mir fernhalten. Aber sie wollten auch etwas Spezifisches von mir fernhalten, was nur mich angeht. Sie wollten psychisches Unheil von mir fernhalten, und sie dachten, die beste Möglichkeit, das zu tun, ist, indem man einfach so tut, als sei alles normal. Aber das ist eben schlecht möglich, wenn das, was du von jemandem fernhalten willst, jeden Tag auf der Titelseite prangt.

Ich habe das Gesicht meiner Großmutter, Gudruns Mutter, wie heute vor Augen, als sie mich am ersten Tag im Krankenhaus besucht hat. Sie wollte in dem Moment einfach nicht mehr weiterleben. Gudrun ist tot, Bernward ist tot, und jetzt erwischt es auch noch Felix. Warum so ein Unheil? Und natürlich hat es auch eine Bedeutung für mich, daß, sechs Monate nachdem Gudrun tot ist, mir das Gesicht zerbombt wird.

Wie kamst du nach dem Unfall wieder auf die Beine?

Ich war zunächst zwei Monate zu Hause. Es mußte erst alles richtig vernarben, damit man es operieren konnte. Es war entsetzlich. Ich erinnere mich genau daran, wie ich das erste Mal aufstand und zum Spiegel gegangen bin. Ich hatte eine drei Zentimeter dicke gelbgrüne blutige Kruste auf meinen Augen. Jeden Morgen mußte ich mir den Eiter aus den Augen entfernen, um etwas sehen zu können. Ich war danach sehr oft im Krankenhaus. Mein ganzes Gesicht mußte erst wieder zusammengeflickt werden.

Wie hat das dein Leben verändert?

Es hat mich zu einem reflektierenden Menschen gemacht. Ich war viel zu Hause, die ersten Monate nach dem Unfall. Es macht es etwas schwierig mit den Mädels, wenn du mit so einem Gesicht daherkommst. Es hat mir geschadet, weil ich mich lange Zeit auf dem Mitleid anderer Leute und meinem Selbstmitleid ausgeruht habe. Ich war ein schlechter Schüler, und nach dem Unfall wurde ich noch schlechter.

Wie haben die anderen Jugendlichen auf dich reagiert?

Wenn die Leute von dir abgestoßen werden, verstärkst du das, was sie abstößt. Das war mit Gudrun so, und das war auch damit so. Die Leute glotzten mich an, und kleine Kinder fingen an zu heulen, wenn sie mich sahen. Aber auch daran gewöhnt man sich.

Was machte das mit dir?

It happened and deal with it. Du kannst entweder auf der Mitleidstour weiterfahren oder dich irgendwann am Riemen reißen und damit aufhören. Mein Selbstmitleid damals: ich bin eine arme Sau. Meine Eltern sind tot. Ich bin der Sohn von Gudrun Ensslin. Einige Leute finden es ganz exotisch, andere Leute finden es sehr hassenswert, ich finde es ein bißchen schräg. Ich bin ein schlechter Schüler, ich habe viele gute Ausreden dafür, ich habe keine Lust, heute etwas zu machen, ich fühle mich schlecht.

Wie bist du aus dieser Depression rausgekommen?

Ich ging mit 16 Jahren für ein Jahr als Austauschschüler in die USA, nach New Hampshire. Das hat mir sehr geholfen. Ich entschloß mich sehr spontan dazu, dank der FAZ. Da sah ich eine Anzeige und sagte zu meiner Mutter: Ich gehe jetzt nach Amerika. Das war eine existentielle Situation für mich. Ich stieg aus dem Flugzeug aus und konnte meine Geschichte neu erfinden. Ich habe in New York in einer Hotelbar gesessen und habe verschiedenste Biographien ausprobiert.

Wie viele Lebensläufe hast du durchgespielt?

Inzwischen bestimmt Hunderte. Es sind nicht immer geschlossene Biographien, sondern Bruchstücke. Wenn du zum zweimillionsten Mal gefragt wirst, wie du die Narben bekommen hast, fängst du an, die Geschichten an die Menschen anzupassen, um sie zu foppen oder um sie zum Schweigen zu bringen. Das passierte auch schon in der Bundesrepublik. In den USA war der Effekt nur ganz anders. Wenn ich mich mit meinem Namen vorstellte, fiel keinem etwas dazu ein. Hier kannte mich niemand. Das war eine große Freiheit, die ich erst mal genossen habe. Ich konnte nur mein eigenes Leben führen, ich konnte mir meine Biographie wieder aneignen. Es geht nicht darum, die Biographie abzulegen, sondern sie nicht von anderen vorgeschrieben zu bekommen. Das ist auch einer der Gründe, warum ich die Verfilmung von Bernwards Roman „Die Reise“ und den Film „Die bleierne Zeit“ von Margarethe von Trotta so hasse. Da hat sich jemand eine Geschichte nach dem Prinzip der größtmöglichen Wirkung ausgedacht. Und ich dachte: Dieses verlogene Drama soll mein Leben sein?

Warum lebst du heute in New York?

Ich war, wie gesagt, 1984 als Austauschschüler in den USA. Danach bin ich mit meiner ältesten Schwester nach Wiesbaden gezogen. Dort habe ich 1987 Abitur gemacht, mich gleichzeitig an mehreren Universitäten in den USA beworben und schließlich für die New School for Social Research in New York entschieden. Ich fand es interessanter, in New York zu leben als in Frankfurt oder Wiesbaden, zumal ich an der New School die Möglichkeit hatte, gleichzeitig Theaterwissenschaft und Ökonomie zu studieren. Schon bald habe ich mich mehr für theoretische Fragen interessiert und bin dann in das philosophische Department der New School übergewechselt. Aber ich bin nicht als Emigrant in die USA gegangen, für mich war das immer eine temporäre Entscheidung.

Was zieht dich nach Deutschland, was hält dich hier in New York?

Ich habe die deutschen Universitäten als absolut entsetzlich empfunden. Sie stehen Lern-, Denk- und Diskussionsvorgängen sehr feindlich gegenüber, sie sind zu groß, zu betoniert, zu verschult. Andererseits bin ich gern in Deutschland. Ich habe viele gute Freunde dort. Ich verstehe mich sehr gut mit meinen Schwestern und auch mit meinen Pflegeeltern. Warum ich heute nach Deutschland will und doch nicht will, hat viele politische Gründe. Deutschland ist in einer großen Krise, Europa allgemein. Das ist auch anziehend und spannend. Hier empfinde ich eine kühlere und theoretischere Einbindung als zu den vielen Problematiken in Deutschland, die es schaffen, den Blutdruck zu erhöhen.

Bist du in New York politisch aktiv?

Während des Golfkrieges haben wir eine Organisation gegründet. Wir haben vielen Soldaten geholfen, die raus wollten. Im weiteren Sinne beschäftigen wir uns mit Minderheitenfragen, Fragen der Integration und Demokratie, wie das im Schulwesen funktionieren soll mit der Integration, auf der anderen Seite sollen Unterschiede akzeptiert und unterstützt werden. Wir bearbeiten Lehrpläne, Fragen der anderen Kulturen als die der westlichen Kultur, Kulturkritik, Einbindung nichteuropäischer Kultur in die europäische Kultur. Diese Fragen werden in Deutschland kaum diskutiert und wenn, dann mit einem recht rückständigen Bewußtsein. Teilweise ist es auch das, was mich an New York hält und bindet. Hier ist diese Diskussion viel weiter. Hier muß man nicht immer wieder in der Steinzeit des Bewußtseins anfangen. In New York ist alles viel konkreter, als ich es je in der Bundesrepublik kennengelernt habe. Den Widersprüchen kannst du hier nicht aus dem Weg gehen, du kannst sie nicht vergessen, wie das noch in der Bundesrepublik in der Zeit vor der Vereinigung möglich war.

Was heißt konkreter?

Ich kann nicht einen Tag aus meinem Haus gehen, ohne genau zu sehen, was Sache ist. Ich meine damit: Klassenunterschiede, Rassismus, die konstante Bereicherung extrem kleiner Bevölkerungsgruppen, die Verarmung größer werdender Teile des Volkes. In der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung war es immer noch möglich, dies zu ignorieren, weil es nicht so sichtbar war. Als ich 1987 nach New York kam, gab es allein in Manhattan ungefähr 100.000 Obdachlose. Du kannst hier nicht einen Schritt gehen, ohne obdachlose Menschen zu treffen. Sie sind absolut hilflos, leben auf der Straße mit keinerlei Perspektive. Es gibt drei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: zuerst, absolute Empörung, dann versucht man, im kleinen Rahmen zu helfen, gibt sein Geld und sein Essen her, wenn man kann, und weiß dabei, daß es keinen großen Unterschied macht. Und dann kommt man hier relativ schnell an den Punkt, an dem man sich sehr ohnmächtig fühlt und wütend wird und aufpassen muß, daß man diese Wut nicht auf diese Menschen richtet, sondern dahin, wo sie hingehört. In New York ist die Situation am extremsten, hier überquert man manchmal die Straße und ist in einer anderen Welt.

Hast du Angst, einmal in eine solche ausweglose Situation zu geraten?

Ich bin ein middleclass kid. Die Struktur, die mich unterstützt, ist intakt, sei es die Familie, sei es die Tatsache, daß ich eine sehr gute Ausbildung habe und jederzeit Arbeit bekommen könnte. Einer der Gründe, warum meine Frau Tisha und ich nicht in Deutschland wohnen, obwohl wir uns entschieden haben, das nächstes Jahr zu tun, ist, daß es hier Strukturen und Gemeinschaften gibt, die kämpfen und auch einen gewissen Schutz, Geborgenheit und auch Abstand davon bieten. Das ist das Gute hier am alltäglichen Rassismus. Der Kampf dagegen ist hier wesentlich weiter. Als Beispiel: Stell dir vor, ab morgen würde in Berlin türkische Geschichte als Hauptfach eingeführt. Das ergäbe doch einen anderen Blickwinkel auf die europäische Geschichte.

Warum hast du Tisha geheiratet?

Ich habe Tisha 1988 an der Universität getroffen. Die Tatsache, daß sie schwarze Texanerin ist, hat beim Verlieben für mich keine Rolle gespielt. Ich bin zu ihr gezogen, und wir sind auf einen Besuch nach Deutschland gefahren. Nach acht Monaten haben wir geheiratet. In Deutschland haben wir noch einmal kirchlich geheiratet. Ich weiß, daß viele Beziehungen, wenn sie auf Alleinabhängigkeitsansprüchen aufbauen, grundsätzlich brutal sind und zu Gewalt neigen. Das heißt aber nicht, daß man sich nicht auf andere Menschen einläßt. Gewisse Vertiefungen und Lernprozesse können nur dann stattfinden, wenn man die Basis nicht immer bestreitet. Wir hatten schon große Krisen, weil natürlich der Rassismus, mit dem man aufwächst, auch in unseren Köpfen ist. Man lernt aus solchen Konflikten und wird demütiger.

Du lebst mit einer schwarzen Frau zusammen, schafft das eine größere Distanz, um dein eigenes Leben zu formen?

Objektiv macht es natürlich auch in diesem Land einen Unterschied, wenn ein Ehepaar nicht aus derselben Kultur kommt und nicht dieselbe Hautfarbe hat. Meine Frau hat sich bis heute geweigert, mich mit nach Texas zu nehmen. Für sie ist das Risiko zu groß wegen der Weißen dort unten. Ich wollte hinfahren, doch sie hat sich absolut geweigert.

Suchst du nach starken emotionalen Bindungen?

...weil ich ein verlassener Sohn bin, der Geborgenheit und Heimat sucht? Ja, ich habe ein starkes Bedürfnis nach starken und festen Beziehungen, und natürlich erklärt sich das aus meiner Geschichte.

Du schreibst im Moment deine Magisterarbeit über Martin Luther. Was interessiert dich heute an Martin Luther?

Mich interessiert die Frage, wie sich Selbstbewußtsein entwickelt am Anfang der Modernität, wie Selbstbewußtsein zur zentralen philosophischen Kategorie wird. Ich sage, daß in Luther der Anfang des modernen Selbstbewußtseins zu finden ist. Es gibt darüber auch andere Auffassungen, wie bei Adorno/Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung.

Wo liegen da die Zusammenhänge mit deinem Leben?

Ich hatte zuerst wenige Gedanken an Luther verschwendet. Dann besuchte ich ein Seminar: „Luther, the beginning of modern self consciousness“, und habe dabei sehr viel verstanden und für mich persönlich empfunden, daß viele der Thematiken, die mich an der Philosophie interessieren, besser verstanden werden können, wenn sie zurückbezogen werden können auf den historischen Anfang in Luther. Dabei ist mir sehr vieles aufgegangen, und was sich aus der lutherischen Kultur als Denkweise in Deutschland in den letzten 400 Jahren bemerkbar gemacht hat, was das über das Elternhaus von Gudrun aussagt – mein Großvater war ja lutherischer Pfarrer – und wie die zwei widersprüchlichen Entwicklungen, auf der einen Seite die Individualisierung in Luther, des Glaubens, des Bewußtseins, die sich in der Moderne weiterentwickelt zur Autonomie, und auf der anderen Seite die absolute Trennung dieser Individualität von Selbstrechtfertigung. Die Frage, die Luther getrieben hat: Wie kann ich wissen, daß ich gerechtfertigt bin, wie kann ich mir sicher sein? Seine Antwort war: durch Glauben:

Beide Tendenzen, so widersprüchlich sie sind, setzen sich in der deutschen Geschichte fort und kommen auch immer wieder in einzelnen Momenten und einzelnen Personen zusammen. In einer gewissen Weise hat mir das Zugänge zu Gudrun eröffnet, ihren Rigorismus und die Sicherheit zu verstehen.

Siehst du dich also in einer Tradition mit deinen Eltern?

Eigentlich nicht direkt. Sie waren beide keine Automechaniker. Aber es gibt viele Intellektuelle in der Welt.

Viele junge Intellektuelle deiner Generation sagen, die 68er-Generation, der auch deine Eltern angehörten, sei für sie eine Katastrophe gewesen.

Die neue Linke der 68er hat eine Situation geschaffen, in der aufgrund der radikalen Systemkritik und dem damit verbundenen Determinismus letztendlich viele Freiräume und viele Arten des politischen Widerstandes und der politischen Kreativität verbaut worden sind. Das heißt nicht, daß es nicht viele kreative Elemente gab wie die Kommune 1 oder im Ausland die Situationisten. Aber durch die radikale Kapitalismuskritik in der Bundesrepublik hat sich die legale Linke absolut ineffektiv gemacht. Man konnte ja nichts mehr machen. Alles wurde als systemunterstützend interpretiert, und zwar nicht nur in den Texten, sondern auch in den Köpfen der Leute. Das andere Resultat war die RAF. Was hat die Entwicklung in der Neuen Linken, alles und jegliches Denken auf die Basis der radikalen Systemkritik zu stellen, bewirkt? Es hat uns die Möglichkeit verschlossen, eine Tradition mit freieren, kreativeren und autonomeren Lebensmöglichkeiten aufzubauen.

Ich habe den Eindruck, daß das, was damals geschah, heute für deine Generation nicht wichtig ist.

Und ob. Das ist doch unsere Geschichte. Was heute existiert, ist ein Resultat daraus. Wir können allerdings nicht auf irgend etwas Dynamisches zurückgreifen, sondern auf eine Niederlage. Ihr seid doch unsere Eltern. Genauso wie die Geschichte eurer Väter euch determiniert hat.

Als ich fünfzehn Jahre alt war, war ich mit meinem Freund der Ansicht, daß es zu bestimmten Problemen klare Antworten gibt. Wir hatten auch ein großes moralisches Empfinden, zum Beispiel hinsichtlich der Anti-Atom-Bewegung oder die Stationierung der Pershing. Da war es für uns selbstverständlich, auf welcher Seite wir standen. Damals – und wir hatten ja keine Ahnung, wir waren 14 oder 15 Jahre alt – hatten wir ein dumpfes Verständnis, da gibt es eine radikale Tradition, und da müssen wir anknüpfen. Aber wir fanden niemanden, bei dem wir sagen konnten: Da knüpfen wir an, da machen wir weiter, da ist jemand in die richtige Richtung gegangen, wir müssen nur unsere eigenen Methoden finden. Ich möchte gar nicht von einer ganzen Generation reden, aber bei den Leuten in meinem Alter gab es nicht viel Interesse an politischen Entwicklungen, weil einfach nichts da war, wo wir sagen konnten, wir machen da jetzt weiter.

Ich denke, daß jede Generation eine Abgrenzung und einen Kampf gegen das, was vorher war, führt, das findet immer statt, kann aber nur dann produktiv werden, wenn man sich gegensätzlich mit anderen Traditionen dagegenstellen kann. Für mich ist es nicht erstaunlich, daß viele meiner Generation jetzt die rechte Tradition aufnehmen.

Wie erklärst du dir deine Eltern in der Zeit um 1968?

Indem ich mir sage, ich kann sie mir nicht erklären. Bei meinem letzten Besuch in Stuttgart sagte meine Großmutter zu mir: „Ach du, je älter ich werde, um so ferner ist es mir, ich kann gar nicht mehr verstehen, daß es mit mir irgend etwas zu tun hat.“ Bei mir dürfte die Entwicklung andersherum sein. Früher habe ich immer gedacht, ich habe ein emotionales Verständnis von Gudrun. Aber irgendwann bin ich mal aufgewacht und habe gedacht, ich habe überhaupt kein emotionales Verständnis von Gudrun. Ich kann mehr und mehr die Rigorosität und den Willen zum Handeln verstehen. Das macht es für mich nicht historisch zu einer intelligenteren Wahl, sondern das Verständnis kann ich jetzt besser ableiten aufgrund eines besseren Verständnisses der 68er- Zeit.

Ist die Revolte des Jahres 1968 für dich, wie Rudi Dutschkes Sohn Hosea Che es sagte, fast schon so lange her wie das Mittelalter?

Nein, aber es ist natürlich Geschichte. Wir sind Kinder der Bonner Republik, das ist ein sehr langweiliges Erbe und keines, das die moralischen Feuer so direkt schürt. Von einigem, was damals geschah, haben wir auch profitiert; das Schulsystem sieht anders aus, die Zugänge zur Universität sehen anders aus. Die Spannungen der Republik haben sich unserer Generation gegenüber nicht so direkt gezeigt. Wir sind in einem ganz anderen Verständnis von Staatsmacht aufgewachsen. In einer gewissen Weise ist unsere ganze Generation Kind der RAF. Die Art und Weise, wie wir mit Staatsgewalt konfrontiert worden sind, in der Friedensbewegung und bei der Stationierungsbewegung, ganz zu schweigen von Wackersdorf oder Startbahn West. Der Staat und die Polizei haben sich durch die RAF legitimiert. Und in dem Sinne verstehe ich mehr über Gudrun, als Phänomen sozusagen, menschlich verstehe ich sie nicht.

Wie siehst du den Lebensweg deines Vaters?

Ich bin trauriger über Bernward, als ich es über Gudrun bin. Ich habe mehr Momente, wo ich denke, es wäre gut, wenn Bernward noch hier wäre, als es mit Gudrun der Fall ist. Was nicht heißt, daß es nicht einfacher gewesen wäre, wenn Gudrun noch da wäre, es wäre sicherlich einfacher gewesen. Schon alleine, um Fragen entweder zu beantworten oder um zu erfahren, daß man keine Antworten bekommt. Ich kann das Scheitern von Bernward eher nachvollziehen. Es hat sicherlich eine Menge damit zu tun, daß wir beide kleine bourgeoise Männerexistenzen sind. Die Dinge, an denen er gescheitert ist, sind mir näher. Sich nicht lossagen zu können von der Definition anderer Leute, es nicht zu schaffen, sich selber zu definieren, sondern die Definition anzunehmen und fortzuführen. Das ist ein Kampf, den ich besser verstehe.

Du planst, mit deiner schwarzen Frau nach Deutschland zurückzukehren. Hast du dabei Angst, dich angesichts des immer stärker werdenden Rassismus wieder mit Haß zu konfrontieren?

Natürlich, die Erfahrung haben wir bei unseren Besuchen schon gemacht. Die üblichen Anstarrereien in der U-Bahn oder Sprüche wie: Bist du ein Jude, oder warum fickst du mit 'ner Negerin...

Wie ist dein Verhältnis zur Gewalt?

Ob ich pazifistisch bin? Nee, garantiert nicht. Ich bin gegen Familiengewalt, ich bin gegen Gewalt als Lösungsmittel in Diskussionen, ich bin gegen Gewalt in der Art, wie die meisten Menschen gegen Gewalt sind. Ich glaube aber, daß es politisch gerechtfertigte Gewalt gibt. Ich denke allerdings nicht, daß die RAF ein Beispiel dafür ist.

Hast du Situationen erlebt, wo Gewalt für dich gerechtfertigt war?

Ich bin in vielen Situationen gewesen, in denen ich gerne gewalttätig geworden wäre, zum Beispiel bei Demonstrationen. Ich würde es nicht tun, weil ich es für unproduktiv halte. Ich denke, daß Gewalt zur Bekämpfung von Faschisten in Deutschland zur Zeit durchaus gerechtfertigt ist. Insbesondere weil sich die sogenannte Staatsgewalt dieser Aufgabe entzieht.

Hält dich die Tatsache, daß du der Sohn von Gudrun Ensslin bist, nicht eher von Gewalt fern?

Ich habe mehr darüber nachgedacht als andere in meiner Generation, die vielleicht schneller militante Reden halten als ich. Ich habe noch keinen Häuserkampf gesehen, der durch eine Straßenschlacht gewonnen wurde. Wenn diese Art von Militanz Ersatz für ein politisches Programm wird, dann gestehen wir damit ein, daß wir nichts zu sagen haben. Wir brauchen anderes als Frustration und Kampfrituale.

Wenn Gudrun heute noch leben würde, wo wäre sie deiner Meinung nach?

Tut mir leid, daß ich lache: Ich nehme an, sie wäre noch im Knast.

Aus der September-Ausgabe des Magazins „Tempo“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen