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■ Die Laokoongruppe vor der Villa HammerschmidtWie man die letzte Lust vertreibt

Eine Wahl, ein Amt, ein Talentschuppen. So kann man einen Posten von mittelgroßer Bedeutung für die Identität dieser Republik natürlich auch in Grund und Boden ruinieren. Was die Bonner Parteispitzen derzeit an Albernheiten um die Kandidatur des künftigen Bundespräsidenten betreiben, das könnte gut bei „Verstehen Sie Spaß?“ durchgehen. Letzter Vorschlag: Herr Heitmann. Aus Sachsen. „Da wären wir Sachsen aber stolz“, sagt Kurt Biedenkopf, der auch schon mal für einen anderen Kandidaten war, „obwohl wir ihn ungern gehen ließen.“

Dafür und natürlich für Sachsen findet sich doch sicher eine Lösung.

Wie wär's damit: einfach behalten, das Schmuckstück des Sachsen-Kabinetts! Als Präsidenten will ihn ernstlich doch keiner. Nicht einmal die Bild-Zeitung, nachdem sie ihn in ganzer Leibesgröße abgelichtet, mit dickem Fragezeichen und dazu noch mit seinem Werbeslogan „Ich bin für Fleiß, Ordnung und Sauberkeit“ (oder ähnlich) geschmückt hat. So kann man den Westdeutschen natürlich die letzte Lust auf einen Ost-Kandidaten vermiesen. Dürfen Vorschläge für Ämter, bei denen die BürgerInnen zumindest entfernt mitvertreten sein möchten, sich inzwischen zur kulturellen Hauptströmung der Gesellschaft verhalten wie die Faust aufs Auge? Oder sollte das genau gemeint sein?

Kam dieser Vorschlag aus der Rubrik „Eins, zwei, drei, wir sind so frei!“, so gehören zwei andere in die Sparte „Je länger, je lieber“. Hier werden Ausstiegsschleifen für verdiente Westpolitiker ins Endlose weichgezeichnet, bevor jene ernstlich drohen, uns eines Tages doch noch zu verlassen. Die FDP wird es am Ende gar schaffen, Hans-Dietrich Genscher, der sich ja immer noch sträuben soll, als definitive Lösung anzubieten. Die Liberalen hatten immer schon einen Riecher für dieses Amt, und Genscher „hat den Ossi-Geruch“, meint FDP-Chef Klaus Kinkel als Empfehlung. Das wird beide Kategorien von Geruchsträgern, die Wessis und die Ossis, entzücken. Nur daß der Auftritt Genschers jetzt schon verhunzt ist, bei dieser Laienspielschau von Königsmachern. „Herr Heinrich sitzt am Vogelherd“ und nimmt von der Abordnung der Edlen des Reiches die kleine Krone der Demokratie entgegen – das ist bis auf weiteres verpatzt.

Die SPD hat ein anderes, auch sehr anrührendes Textbuch in der Hand. Sie hatte sich, auf einen vermeintlichen Fingerwink des Kanzlers, zu dem Opfer durchgerungen, ihr größtes Bundesland in die grausame, die landesvaterlose Zeit fallen zu lassen, um der größeren Republik mit einem ihrer Besten auszuhelfen.

Wenn man es näher bedenkt, war das nicht nur selbstlos, sondern geradezu ein spontaner Impuls der Gerechtigkeit. Empfindet es nicht der kleine Mann als ziemlich ungerecht, daß die SPD in ihrer langen Geschichte erst ein einziges Mal den deutschen Präsidenten stellen durfte? Muß das nicht – Wahljahr hin oder her – auch die Union überzeugen, die dummerweise satte Mehrheiten in der Bundesversammlung hat? Und was ist, wenn nicht? Muß man Johannes Rau das antun?

Wo so viel Ratlosigkeit herrscht, da helfen alle gern mit, Möllemann zum Beispiel und die NRW-FDP, die ihre eigenen und gänzlich uneigennützigen Motive haben, wie zu vermuten steht. Andererseits sind sie, selbstredend, auch für Genscher: der war noch länger im Amt – irgendwie geht es hier um Ewigkeitsrekorde. Egal wie, es zählt, was unterm Strich herauskommt. Das ist auf jeden Fall erste Sahne, Verdienstvolles, das gute Alte eben, das wir schon kennen.

Da kann sich die Satire-Zeitung Titanic bruchlos anschließen, die gleich Möllemann auslobigt, was die satirefreie Zeit, die ihrerseits – warum wohl? – für Rau ist, bierernst bekriteln läßt. Und so weiter, und so weiter.

Ergebnis: Nichts geht mehr, alles ist ineinander verkeilt, alle Bonner Parteien haben sich, teilweise ohne jede Erfolgschance, mit Personalien festgelegt, von denen sie nicht mehr herunterkommen, die aber auch niemanden überzeugen können – falls diese kleine nebensächliche Frage der öffentlichen Akzeptanz überhaupt noch ernstlich interessiert beim Bonner Stellungskrieg.

Kurzer Überblick über die bisher in der Debatte genannten Anforderungsprofile für mögliche Bewerbungen:

Der Kandidat oder die Kandidatin – die aber sowieso schon aus dem Rennen zu sein scheint – soll aus dem Osten kommen. Dafür spricht tatsächlich viel: Die deutsche Einheit ist im Inneren, nicht zuletzt im Bereich der Identitäten, ferner gerückt denn je. Der Osten hat bisher kaum eine überzeugende Adresse in Bonn, keines der Schlüsselressorts in der Regierung, noch nicht einmal eine repräsentative Funktion wie das Bundestagspräsidium ist mit einer Person aus dem Osten besetzt. Es macht also Sinn, in den neuen Ländern nach einer integren Persönlichkeit mit einer akzeptablen Geschichte zu suchen.

Gleichzeitig – sonst wäre die ganze Ostkandidatur ein einziger Flop – muß die Person aus dem Osten in der Lage sein, dem Westen den Osten näherzubringen, ihn zu interpretieren, in einer auch dem Westen verständlichen Sprache etwas von den möglichen Gemeinsamkeiten deutlich zu machen. Das genau kann Herr Heitmann offensichtlich nicht. Herr Heitmann ist einfach unter Niveau für den Teil Deutschlands, für den einmal Uwe Johnson, Christa Wolf, Günter Kunert, Günter de Bruyn, Wolf Biermann und Bärbel Bohley gesprochen haben.

Für die beiden verdienstreichen Namen aus dem Westen, Genscher und Rau, wird wiederum ins Feld geführt, sie hätten die notwendigen staatsmännischen Erfahrungen. Wer wollte wagen, dem zu widersprechen?

Wer also ein Symbol einer patriarchalischen Parteienkultur par excellence sucht, der kann gar nicht besser treffen. Der Mangel an Risiko, der darin liegt, ist zugleich größter Einwand gegen diesen Griff ins Herkömmliche. Mit Genscher oder Rau könnte man an die unendliche Dauer der tragenden Schicht der alten Bundesrepublik denken – und daran verzweifeln. Für die gestaltende Rolle, die beide dabei ausgefüllt haben, sind alle Hymnen schon gesungen worden, das kann man alle Jahre mit Gewinn wieder tun. Wenn aber genau diese politische Kultur der alten Bundesrepublik, inklusive ihrer führenden Repräsentanten, zur Monokultur geworden ist, die alles erstickt, dann kann die Ursache der Krise und der Politikverdrossenheit schlechterdings nicht gleichzeitig ihre Lösung sein. Rau und Genscher sind heute – trotz ihrer Verdienste – die falschen Leute zur falschen Zeit.

Mußte es so weit kommen? Gab es keinen Ausweg, bevor man jetzt öffentlich Namen diskutieren und damit immer auch beschädigen muß? Gab es keine dritte Möglichkeit einer Kandidatur, die nicht in die klassischen Fallstricke gerät? Es gab sie. In diesem konkreten Fall, mit Verlaub, steht den Parteifürsten nicht der beliebte Rückgriff auf die Sachzwänge oder die dicken Bretter zu, die nur sie zu handhaben verstehen.

Als im Juni dieses Jahres ein Kreis von Intellektuellen, Künstlern, Politikern und Journalisten an die Öffentlichkeit ging, um einen Kandidaten vorzuschlagen, der dieses Mal nicht aus dem Parteibetrieb kommen sollte, da hatten sie genau die jetzt eingetretene Situation vor Augen: das drohende Patt im Parteiengerangel. Ohne großes prophetisches Vermögen war es in der Vorphase vor dem Superwahljahr 1994 leicht zu ahnen. Trotz eigener Skepsis, nach genügend frustrierenden Erfahrungen mit den traditionellen Parteimechanismen bei allen Beteiligten, entschloß sich dieser Kreis zu einer Intervention, die gleichzeitig eine Selbstverpflichtung war: eine konsensfähige Kandidatur zu suchen, für diese bei den Parteien zu werben und vor der Öffentlichkeit dafür einzustehen.

Selten wird man in der Geschichte der Bundesrepublik einen Kreis finden, der heterogener zusammengesetzt war. Zum Zweck, einen Bundespräsidenten vorzuschlagen, fanden sich so unterschiedliche Positionen wie Hans Magnus Enzensberger und Joachim Fest, Joachim Gauck und Richard Schröder, Ignatz Bubis und Konrad Schily, Dany Cohn-Bendit und Arnulf Baring zusammen.

Der Kreis hat vermutlich länger gesucht als alle Parteistrategen zusammen, er hat auch die von den Parteien vorgelegten Kriterien nicht außer acht gelassen. Er hat Jens Reich vorgeschlagen – aus dem Osten kommend, Bürgerrechtler, Naturwissenschaftler, politisch nicht unerfahren, sprachgewandt und undogmatisch, dazu sogar, nach konservativen Kriterien, ordentlich verheiratet und katholisch. Der Frankfurter Kreis wollte ein neues interessantes Gesicht in Bonn, er hat die Parteien mit dem Vorschlag aber keineswegs überrascht, sondern freundlich gebeten, eine solche Wahl als Chance für sich selbst zu nutzen.

Sorgfältiger, ausgewogener und diskreter kann man einen Vorschlag nicht vorbereiten, besser nicht gesellschaftlich absichern. Es hätte den Parteien freigestanden zu sagen: Wir sind nicht so, wie das Volk immer denkt, wir können auch anders.

Das Ergebnis: Die bekannte Laokoon-Gruppe vor der Villa Hammerschmidt, der Anblick schweißtreibender sinnloser Muskelprotzerei.

Fazit: Es geht den Volksparteien längst noch nicht schlecht genug, wenn sie meinen, sich das immer noch leisten zu können. Antje Vollmer

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