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Konflikte im Schnitt verschwunden

Immer noch einer der großen Maler des Kinos, aber ...: Fünf Kapitel zu Wim Wenders und seinem neuen Film „In weiter Ferne, so nah!“, abgefaßt  ■ Von Norbert Grob

I.

Es beginnt, wie es vor sechs Jahren im „Himmel über Berlin“ endete: mit dem Engel Cassiel (Otto Sander), der, hoch oben auf der Siegessäule sitzend, voller Trauer auf die Stadt blickt. Die Kamera nähert sich im Flug und umkreist ihn mehrmals. Eine langsame Annäherung, so, als wolle die Kamera akzentuieren, wie lange sie ihren Helden außer acht gelassen habe. Als Cassiel dann nach unten springt, bleibt sie ihm zur Seite – auf die Menschen schauend, die in ihren Autos vorbeifahren, ihrem Verhalten folgend, ihren Gedanken zuhörend. Noch einmal, wie schon im „Himmel“, läßt Wenders sich kurz ein auf die Tristesse der großen Stadt, auf Erkundung und Klage. Doch da ihn Wiederholungen nicht interessieren, folgen danach andere Experimente, andere Konzepte, andere Geschichten. „In weiter Ferne, so nah!“ setzt also den „Himmel“ nicht fort, er spinnt ihn auf einer anderen Ebene weiter.

Dieser Film ist ein weiterer Versuch, das Bild einer Zeit und ihrer Menschen zu zeichnen, das Bild davon, wie sie leben und wofür sie leben – so weit entfernt von Hollywoods üblichen Spannungsfilmen wie vom drögen, realitätssüchtigen Fernsehkino hierzulande. Ein vielschichtiges Panorama: mal Thriller, mal Poem, mal Melo und mal Elegie.

Wim Wenders' Filme sind gegen barocke Fülle wie gegen klassische Dichte inszeniert. Die Geschichten, die sie erzählen (und die oft extrem reduziert wirken), leben gerade von den Lücken dazwischen – von freien Blicken, losen Bindungen, leeren Bildern. Seine Fertigkeit ist das Unfertige.

II.

Geschichten, die nicht „wie Vampire“ dem „Bild das Blut aussaugen“. „Gesichter, die nie zu etwas gezwungen werden.“ Und „Landschaften, die nie einfach nur Hintergründe sind“. „Bilder, die (niemandem) die Sicht versperren.“ Und „Töne, die (niemanden) übers Ohr hauen“. Filme voller „Sorgfalt“, „Ernsthaftigkeit“, voller „Ruhe“ und „Menschlichkeit“, das ist Wim Wenders' frühester Traum (den epischen Filmen John Fords entnommen) und im Laufe der siebziger und achtziger Jahre in seinen eigenen Filmen wieder und wieder inszeniert: in „Alice in den Städten“ und „Im Lauf der Zeit“, in „Der Stand der Dinge“ und „Paris, Texas“.

Wenders' große Utopie: Kino als Fenster zur äußeren Welt, wo der entdeckende Blick dominiert, auf daß die Zuschauer sehen, was es noch zu sehen gibt. Das Vorgefundene machte sich in den Bildern breit, als gehe es stets nur um Beobachtung. Auch an Inszeniertes klammerte sich die Kamera, als gelte es, Gegebenes zu entdecken. Das heißt, die Filme zeigten das Erfundene, als sei es Gefundenes. Was manchmal dazu verführte, die Verführung zu übersehen.

Über diese radikale Reduktion kam oft eine Stimmung auf, die in die Tiefe wirkte. So war die Kälte zu sehen, die über den Menschen und den Dingen liegt. Und die Melancholie der Helden, die sich innerhalb dieser Kälte bewegen. Zu sehen war die Leere in der Welt. Ihre triste Alltäglichkeit. Auch ihre verlorene Schönheit.

In seinem neuen Film wagt Wenders einen extremen Blickwechsel. Am allgemeinen Zustand: an der Lage der Menschen, hat sich wenig verändert, so grundlegend der Wandel im Gesellschaftlichen auch sein mag. Vorherrschend bleiben Sorge und Klage, Einsamkeit, Angst, Trübsal. „Nichts macht mehr Sinn... Für die Menschen gibt es offensichtlich kein Dahinter.“

Der Wechsel liegt im point of view: Wenders konstatiert nicht länger, er beobachtet nicht nur, er sucht das Phantasmagorische. Sein Blick gilt nicht – in großer Ruhe – dem Leid, sondern – von außen her – dem Sinnen über dieses Leid. Seine Engel: Cassiel zunächst, dann Raphaela (Nastassja Kinski), sind verwundert über die Gleichgültigkeit, die sie mit anschauen müssen, sie beklagen, oben auf dem Brandenburger Tor sitzend, das Desinteresse der Menschen am Miteinander, an Liebe und Solidarität. „Warum nur hören sie uns immer weniger zu?“

Im „Himmel über Berlin“ hörten die Engel zu, und Wenders gelang damit das lebendige Bild einer bestimmten Stadt in einer bestimmten Zeit. Nun wollen die Engel, daß die Menschen ihnen zuhören, sie wollen belehren und verändern. Womit Wenders aber bloß ein besserer Traktat gelingt.

Seine Engel, so Wenders selbst, stünden „für alles, was gut ist im Menschen“. Was im Grunde darauf zielt, daß wir Menschen alle Engel werden müßten. Nur – und das wissen wir ja auch im Kino seit Jean Renoirs „Spielregel“, daß dies das Fürchterlichste ist: wenn jeder nur das Gute will und für alles, was er tut, seine heiligen Gründe hat. Gerade das Heilige besaß doch stets zwei Gesichter: Zum einen war es die Instanz des Fanatischen, die gestattete, über Leichen zu gehen; zum anderen nur war es das Moment der Verzauberung, das alles Böse überwindet und läutert.

Andererseits scheint es aber auch so, ganz profan, als könnten die beiden Engel bloß nicht fassen, daß die Menschen nicht so sind, wie sie es sich wünschten. Was ja nur heißt, daß Wenders nicht fassen will, wie die Menschen tatsächlich sind.

III.

Ein besonderes Problem ist die Sprache (oder besser, nach Jünger: die Wortsetzung). Alles, wovon der Film erzählt, wird in Worten nochmals ausgedrückt. Wobei „die Botschaft“ ganz direkt ausgesprochen wird, mehrfach sogar. Und die Botschaft heißt schlicht und ergreifend: Wir sollen unsere Nächsten lieben wie uns selbst. „Die Botschaft heißt Liebe“, das sagen die Engel am Ende im Chor. Zuvor darf Raphaela noch beklagen: „Die Menschen haben vergessen, daß durch die Augen ein Licht direkt ins Herz fällt.“ Geradezu heilig ist der Ton, wenn alle Konflikte zwischen einem einzigen Schnitt verschwinden – und die Engel zu ihrer Schlußpredigt anheben. Die Liebe? Ja, die Liebe! Die Liebe?

Ansonsten, ganz generell: Ist das Heilige wirklich zu beschwören, indem man Heiliges spricht?

Oft wird ganz Erlesenes in den Reden der Engel formuliert, der Klang dazwischen aber bleibt seltsam hohl. Die Dialoge, noch nie Wenders' Stärke, tendieren zur hohen Sprachkunst. Die Worte des Dichters aber setzten den Dichter voraus. Und wenn es schon Goethe nicht gibt, hätte es doch wenigstens wieder Peter Handke sein müssen (wie im „Himmel“) – oder sogar Botho Strauß. So jedoch verrutscht das Poetische nun da und dort zum Kalenderspruch – viel Intention, wenig Timbre, keinerlei Taumel.

IV.

Worum geht es? Wie schon im „Himmel über Berlin“ ist es ein Engel leid, den Lauf der Welt nur ohnmächtig zu begleiten. Als dann ein Kind vom Balkon stürzt, greift Cassiel ein, rettet es – und wird darüber zum Menschen. Rüstung und Zopf fallen zu Boden, aus Schwarzweiß wird Farbe. „Is' ja bunt hier, alles voller Farben!“

Karl Engel nennt er sich. Doch da er weder Geld noch Papiere besitzt, landet er erst einmal im Gefängnis. „Wenn man hier kein Abbild von sich hat, ist man ein Niemand.“ In den Tagen darauf stürzt er ins Bodenlose, und keiner kann ihn davor bewahren, auch Bruno Ganz nicht, der andere Engel aus „Der Himmel über Berlin“. Ratlos schlendert er durch die Straßen. „Kann man denn in die Hölle fallen, ohne das Böse gespürt zu haben?“ In diese Geschichte sind Episoden anderer Helden eingebunden, die immer neue Perspektiven, immer neue Facetten eröffnen. Da ist der Detektiv (Rüdiger Vogler), der die Spuren in vergangene Zeiten verfolgt, der alte Chauffeur (Heinz Rühmann), der seinem Werden und Wirken nachgrübelt („Wenn man stirbt, muß man doch wissen, wie man gelebt hat!“), und da ist der amerikanische Geschäftsmann (Horst Buchholz), der sein Geld mit dubiosen Waffendeals und Pornovideos macht. Und drumherum weitere Gauner, weitere Heilige: Verbrecher mit den Füßen im Zement, Engel mit Flügeln auf dem Brandenburger Tor.

Aufregend dabei, wie Rüdiger

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Vogler den Detektiv gibt: eine Variation des Philip Winter aus „Alice“ und „Bis ans Ende der Welt“. „Ich suche, wie immer. Ich hab' nicht gefunden, wie immer. Ich wollte warnen. Und bin zu spät gekommen.“ Vogler schließt damit eine Figur ab, die in den siebziger Jahren wie keine andere das männliche Lebensgefühl ausdrückte. Zu sehen ist zudem, was aus der kleinen „Alice“ (Yella Rottländer) geworden ist: ein Engel natürlich.

Wunderglaube und Melo-Gefühl, Video-Gewalt und Nazihorror, Waffenschieberei und Gangster-thrill – für kurze Momente kommt vieles zusammen, ohne daß Wenders es auf eine Linie zwänge: Da gibt es dann doch wieder diese Augenblicke, die einen erschauern lassen, Bilder voller Weite und Stimmung, voller Luft und Dämmerung, voller „Schatten und Transparenz der Hintergründe“ – Bilder jenseits der Erzählung und der heiligen Worte. Wobei zu sehen ist, daß Wenders noch immer zu den großen Malern des Kinos zählt. Leider ist auch zu sehen, wie sehr ihm diese Bilder inzwischen im Wege sind, wie ihn „inzwischen die Bilder nur als Funktion einer Geschichte interessieren“, wie sehr er „den Bildern mißtraut wie die Pest, allen Bildern“. Die problematischste Konsequenz daraus: die Verbrennung der Videobänder, die – wie Wim Wenders denkt – zeigen, was nicht zu zeigen ist: Pornographisches. Der Standpunkt ist nachvollziehbar, die inszenierte Tat – zumal in diesem Zusammenhang – keineswegs. Auch sechzig Jahre nach den Berliner Bücherverbrennungen darf von dieser Stadt ein solcher Aufruf nicht ausgehen.

Nach „In weiter Ferne, so nah!“ habe ich erstmals gedacht, vielleicht muß man es doch hassen, das Kino zu lieben, damit man nicht liebt, das Kino zu hassen.

V.

„If you want clouds, you don't forget the wind“, erklärt Emit Fletsi (Willem Dafoe), die Phantomgestalt für Cassiels Zeit, dem Engel Raphaela, der sich mit all seiner Kraft für Cassiels Erdenzeit einsetzt. Aber, und das ist das Verwunderlichste an Wenders' neuer Arbeit, er selbst inszeniert nur Wolken. Vom Wind dagegen keine Spur.

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