Krieg der Züge: ICE contra TGV

Das Duell zwischen Siemens und GEC-Alsthom bestimmt den Kampf um den Bahntechnik-Weltmarkt / Schlachtfeld im Osten Deutschlands  ■ Von Florian Marten

Berlin (taz) – Schwaden eiskalter Zukunftsangst wabern diese Tage durch die Führungsetagen der Sparte Bahntechnik des deutschen Elektromultis Siemens: Ihr Paradepferd, der schwere, teure und pannenanfällige Hochgeschwindigkeitszug ICE, verliert eine Schlacht nach der anderen gegen den leichtgewichtigen und schnelleren französischen Konkurrenten TGV. Nach der jüngsten Schlappe in Südkorea droht, so verlautet aus Insiderkreisen, eine weitere vernichtende Niederlage beim gigantischen texanischen Neubauprojekt der Strecke Dallas – Forth Worth – Houston. Auch dort liegt der TGV vorn.

Nach der Einführung des angeblichen Wunderzuges ICE auf den deutschen Schienen hatte Siemens von einer Eroberung des Weltmarktes geträumt. Der ICE sollte das Eintrittsticket für einen Siemens-Siegeszug beim für die zweite Hälfte der 90er Jahre erwarteten weltweiten Boom der Schienenverkehrtechnik werden. Und nun bedroht der technisch ausgereifte und schlichtere TGV auch noch die Heimbastion von Siemens, das deutsche Schienennetz. Der TGV-Bauer GEC-Alsthom, eine Tochter des französischen Atomgiganten Electricité de France (EDF), hat ein ausgefeiltes Angebot für die Übernahme der Deutschen Waggonbau AG (DWA) vorgelegt. Erhält Alsthom den Zuschlag für die Treuhandtochter DWA und ihre Werke in Ammendorf (bei Halle), Dessau, Görlitz, Bautzen und Niesky, dann käme auch die Bundesbahn wohl kaum noch an einem Einsatz des TGV vorbei – denn GEC-Alsthom hat bereits zugesichert, den TGV für Deutschland auch in ostdeutschen Werken zu bauen.

Siemens bemüht sich verzweifelt, die Notbremse zu ziehen und intensiviert sein eigenes DWA- Übernahme-Angebot. Um fast jeden Preis will der Konzern verhindern, daß GEC-Alsthom einen Fuß auf deutschen Boden bekommt. Siemens hat sich zu diesem Zweck mit AEG und dem Weltmarktführer ABB zusammengetan, die auch Partner beim ICE- Bau sind. Allerdings: Während Konkurrent GEC-Alsthom mit vollen Auftragsbüchern und allerbesten Weltmarktperspektiven die ostdeutschen Werke wohl tatsächlich auslasten würde, sitzen Siemens, AEG und ABB schon in Deutschland auf gewaltigen Überkapazitäten. Der deutsche Waggonbau in Ost und West ist 1993 lediglich zu 50 Prozent ausgelastet.

Die DWA, mit 9.100 Beschäftigten und fast 20.000 von ihr abhängigen Arbeitsplätzen bei ost- deutschen Zulieferern mit Abstand das größte Waggonbauunternehmen, steht zudem selbst vor existentiellen Problemen. Die zum Teil hochmodernen Fabriken (Ammendorf) und das ausgezeichnete Know how des einstigen Schmuckstücks der DDR-Schwerindustrie hängen zu fast 50 Prozent an Aufträgen der GUS-Staaten, für die der Bonner Auslandsversicherer Hermes jedesmal neu bürgen muß – eine unsichere Bank.

Bischofferode im Waggonbau geplant?

Siemens, so verlautet aus Insiderkreisen, plant denn auch für seine Übernahme der DWA ein Bischofferode in großem Stil: Westkonzern kauft weltmarktfähige ostdeutsche Konkurrenz, verspricht, wenigstens einige Arbeitsplätze zu erhalten, und benutzt den Deal am Ende bloß dazu, um seine Produktionsstruktur im Westen zu optimieren und einen gefährlichen Konkurrenten auszuschalten. Siemens werde nach einer Schamfrist von ein bis drei Jahren allenfalls Görlitz und ein Schrumpf-Ammendorf überleben lassen, glauben die Experten. Hartmut Tölle, Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Deutschen Waggonbau AG, lehnte deshalb eine Übernahme der DWA durch Siemens am Wochende noch einmal rundweg ab. Auch DWA-Manager und Wessi Peter Witt, einst Controller einer Aachener Schokoladenfabrik, weiß um diese Gefahr und spekuliert auf ein eigenes Schnäppchen: Zusammen mit seinem Vize-Vorständler Ladendorf (Ex-Beiersdorf-Manager, dort zuständig für Tesa) hat er sich an ein drittes Angebot des niederländischen Mischkonzerns Begemann (Agrarprodukte) angehängt. Er möchte lachender Dritter im Kampf der Elektrogiganten Siemens und GEC-Alsthom sein.

Die aktuelle weltweite Auftragsflaute und die neuen Spielregeln im Bereich der Bahntechnik verschärfen das Kampfklima: Seit dem 1.1.1993 müssen Staatsaufträöge in Europa öffentlich ausgeschrieben werden. Der alte deutsche Vorteil, von einem großen geschützten Heimmarkt aus Export- Technologien zu entwickeln, ist zumindest auf dem Papier perdu. Die neue Regel heißt: Weltmarkt oder kein Markt. Langer Atem ist dabei Voraussetzung. Gegenwärtig halten sich, gerade in Europa, die öffentlichen Auftraggeber mit Bestellungen zurück. Wie in Deutschland sind die Bahnreformen ein mitentscheidender Grund: Erst ab 1995, wenn sich Bundesfinanzminister Theo Waigel die privatisierte Deutsche Bahn AG vom Hals geschafft hat, müssen die Deutschen Bahnen ihren Fahrzeugpark erneuern. S-Bahnen für Berlin und Hamburg, neue Güterwaggons und Nahverkehrswaggons werden dann in Auftrag gegeben. Anschließend winkt in Osteuropa die lukrative Beteiligung am Aufbau einer vernünftigen Verkehrszukunft.

Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf setzt deshalb auf eine dritte Lösung: Mit gesunder Skepsis gegen Siemens und die Achse Waigel/Kohl/Rexrodt/ Treuhand (Siemens sitzt in München, Kohl liebt Siemens, Siemens sitzt in Berlin, wird dort von Rexrodt und Treuhand geliebt) bastelt er an einer regionalen sächsischen Lösung für die DWA-Werke Görlitz, Bautzen und Niesky, die dabei eng mit GEC-Alsthom kooperieren könnten, denen für den Sieg über Siemens auch die Werke Dessau und Ammendorf in Sachsen- Anhalt genügen würden. Herbert Gienow, Deutschland-Beauftragter von GEC-Alsthom, verkündet, er sei für alle Modelle offen, die GEC-Alsthom dem Ziel näher bringen.