: Ein „neues Leben“ für Rußlands Nomenklatura
■ Entwürfe für eine neue Verfassung beschäftigen Opposition und Regierung
Moskau (taz) – Es gibt Leute in der Russischen Föderation, die an einer neuen Verfassung gar nicht interessiert sind. Während Präsident Boris Jelzin eine solche und Neuwahlen schon für diesen Herbst anstrebt, fragen sich nachdenkliche Zeitgenossen mit dem russischen Vizepräsidenten und Jelzin-Widersacher Alexander Ruzkoi, ob denn wirklich die gegenwärtige Konstitution von 1978 die Schuld an dem lähmenden gegenwärtigen Patt zwischen Parlament und Exekutive trägt oder nicht vielmehr die totalitäre Mentalität der Politiker.
Tatsächlich wirkt das Hineinreden des Parlaments in sämtliche Regierungsbeschlüsse heute allen wirtschaftlichen Reformen entgegen. Die Versammlung ist ein typisches Relikt des alten Räte-Prinzips, bei dem die „Sowjets“ Legislative und Exekutive in einem waren. Der Wille zu einem neuen, einheitlichen Verfassungswerk führte im Juni 1990 zur Gründung einer Verfassungskommission beim russischen Obersten Sowjet. Der Sozialdemokrat Oleg Rumjanzew wurde ihr Exekutiv-Sekretär. Den Jelzin-Anhängern erschien die Kommission feindlich gesonnen: Das Präsidentenamt tauchte in ihren Projekten nur rein dekorativ auf. Da weite Kreise in Rußland eine Stärkung des Präsidenten für die Zeit der Übergangs- Wirtschaft für notwendig halten, fiel es Jelzin nicht schwer, eine konstitutionelle Versammlung als Gegengewicht einzuberufen.
Diese trat am 5. Juni dieses Jahres zusammen und tagte fast den ganzen Monat lang, 750 Delegierte aus verschiedensten Institutionen nahmen teil und erarbeiteten einen weiteren Kompromiß: Dem Präsidenten der Russischen Föderation wird dabei zum Beispiel nicht die von Jelzins Team angestrebte Rolle des Schiedsrichters zwischen den einzelnen Gewalten im Staate zugesprochen. Dafür darf er die Regierung, die Verfassungsrichter usw. ernennen – aber nur mit Zustimmung des Parlaments. Sollte letzteres zweimal im Verlauf von drei Monaten der Regierung das Mißtrauen aussprechen, darf der Präsident es auflösen. Eine Kuriosität dieses besonderen russischen Weges zur Gewaltenteilung: Der Präsident muß ein „schweres Verbrechen verüben“, ehe er zum Opfer eines Impeachment werden kann.
Geblieben ist das Problem, wie die neue Konstitution im Leben der Nation verankert werden könnte, wenn das einzig dazu legitimierte konstitutionelle Organ, der Sowjet der Volksdeputierten, nicht will. Ein genialer Schritt aus dieser Sackgasse gelang Boris Jelzin am 13. August in Petrosawodsk. Dort konnte er die Häupter der 20 autonomen Republiken und 68 Gebiete, Kreise und Bezirke wie einen einzigen Mann hinter sich sammeln. Das Zauberwort hieß Gründung des „Föderationsrats“, einer Vertretung der Subjekte der Föderation als – vorerst beratendes – legitimes Organ und späteres Oberhaus des Parlaments von morgen. Wer sollte sich schließlich über die neue Verfassung einigen, wenn nicht die Länder, die zusammen Staat machen?
Die drohende Konkurrenz durch den Föderationsrat hat auch im Parlament die Fronten in Bewegung gebracht. Ende letzter Woche trafen sich der Sekretär der Verfassungskommission, Oleg Rumjanzew, und das Haupt von Jelzins präsidialer Administration, Sergej Filatow. Beide sind sich jetzt einig, daß man den Kongreß der Volksdeputierten bei der Verabschiedung der neuen Konstitution nicht umgehen sollte. Die konkurrierenden Interessengruppen beginnen ihre Verfassungsprojekte zu koordinieren.
Den Vorteil, politische Prozesse wie diesen aus den Korridoren ans Tageslicht zu zerren, brächten allgemeine Wahlen mit sich. Gavriil Popow, Führer der „Bewegung Demokratische Reformen“, hält es nicht einmal mehr für ausgeschlossen, daß der noch bestehende Oberste Sowjet schon bald ein Wahlgesetz verabschiedet. Da man angesichts der früher oder später so oder so bevorstehenden Verfassungsänderung nicht genau wisse, was man eigentlich wähle, schlägt Popow bis zur Annahme einer solchen ein Übergangsparlament und provisorische Regelungen der Gewaltenteilung vor. Diese könnten seiner Ansicht nach im Wahlgesetz selbst verankert werden. Ex-Ministerpräsident Jegor Gaidar setzt den Zeitpunkt dafür „nicht später als in anderthalb Jahren“ an, möglichst früher.
Gaidars „Block Wahl Rußlands“ ist die größte Organisation, die die Durchsetzung von Neuwahlen von der Basis her forciert. Gleichzeitig will sie sich als Wahlkoalition für ein reformistisches Programm verstanden wissen. Die „Wahl Rußlands“ vereint acht Organisationen wie die „Allrussische Assoziation privatisierter und privater Unternehmen“ und die „Bewegung Demokratisches Rußland“, außerdem Persönlichkeiten wie Alexander Jakowlew und den Vorsitzenden der Privatisierungs- Behörde, Anatoli Tschubais. Die Wahlen nähern sich nunmehr Rußland wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, und das Fieber hat alle ergriffen. Der Führer der nationalistischen „Vereinigten Front der Werktätigen“, Viktor Ampilow, will sich ein neues Gebiß machen lassen. Die „Demokratische Partei Rußlands“ des Nikolai Trawkin probte ein ganzes Wochenende im Sandkasten einer Regierungsdatscha bei Moskau und zählt im übrigen auf die erotische Ausstrahlung ihrer Kandidaten. Die Ruzkisten üben Wahl-Party nach amerikanischem Vorbild auf einem Moskwa-Dampfer. Und die roten Direktoren der „Bürger- Union“ haben sich wieder gefunden und sammeln Geld, wie alle anderen auch, nur noch ein bißchen mehr.
Die klotzigsten finanziellen Mittel, so schätzen Experten, werden bei einer kommenden Wahlschlacht die Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes ins Getümmel werfen – für sie geht es um die Existenz. Und wenn das Ereignis eines Tages wirklich hinter ihnen liegen sollte? Dann – so hoffen alle Überlebens-Optimisten – werden sie ein neues Leben beginnen. Wie Tschechows „Drei Schwestern“. Barbara Kerneck
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