Ostdeutsche Aufholjagd abgeblasen

■ In Ostdeutschland nur geringes Wirtschaftswachstum von niedrigem Niveau ausgehend / Bauwirtschaft ist einzige deutsche Wachstumsbranche / Bundeswirtschaftsminister leidet an Halluzinationen

Berlin/Wiesbaden/Köln (taz/ dpa/AP) – Die Rezession im Westen Deutschlands schwappt in die neuen Bundesländer über. Zwar wächst die ostdeutsche Wirtschaft noch – um 6,2 Prozent im ersten Halbjahr 1993. Doch ist das deutlich weniger als im Halbjahr davor, als noch ein Plus von 10,1 Prozent erwirtschaftet wurde. Zum andern geht das Wachstum von einem denkbar niedrigen Niveau aus: Das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt beläuft sich mit 124,2 Milliarden DM auf nur 8,2 Prozent der gesamtdeutschen Wirtschaftsleistung (der Bevölkerungsanteil der neuen Länder liegt bei 20 Prozent der Gesamtbevölkerung).

Daß die Wirtschaft in den fünf neuen Ländern einschließlich Ostberlin bald aufholt, ist unwahrscheinlich. Denn die Ausrüstungsinvestitionen, die die Basis für einen künftigen Aufschwung darstellen, stiegen nur um 2,5 Prozent. Die Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen aus den neuen Bundesländern in die westlichen Bundesländer und ins Ausland fiel preisbereinigt um satte 4,9 Prozent. In der gesamten Bundesrepublik gingen die Ausrüstungsinvestitionen um 13,6 Prozent zurück. Da hilft es auch nicht, daß als einzige Branche die Bauwirtschaft sich dem Trend entgegenstellt. In den neuen Bundesländern legte sie ein Wachstum von 19 Prozent aufs Parkett. In der Bundesrepublik insgesamt ist die Bauwirtschaft der einzige Sektor, in dem sich noch ein Zuwachs erzielen ließ: um 2,8 Prozent. Die Wirtschaft der BRD im Ganzen schrumpfte um zwei Prozent in den ersten sechs Monaten des Jahres.

Obwohl die ostdeutsche Wirtschaft noch leicht wuchs, ging der Arbeitsplatzabbau weiter. 3,7 Prozent weniger Jobs gab es Mitte des Jahres als zu Jahresbeginn. Die ostdeutsche Arbeitslosenquote liegt nun bei 14,9 Prozent. Bei gleichzeitig ansteigender Produktion kommt das einem Produktivitätszuwachs gleich, und zwar 10,3 Prozent. Dennoch liegt die Arbeitsproduktivität erst bei gut einem Drittel des westdeutschen Wertes. Die glücklichen Besitzer eines Arbeitsplatzes können sich über einen Zuwachs der Löhne und Gehälter um durchschnittlich 17 Prozent freuen; sie erreichen nun immerhin 68,43 Prozent des westdeutschen Niveaus.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) meint, eine Wende könne nur durch höhere Exporte eingeleitet werden. Jedoch spreche das verlangsamte Wachstum in den USA und die faktische Aussetzung des europäischen Währungssystems (EWS) nicht dafür, daß die Nachfrage aus dem Ausland der inländischen Wirtschaft bald einen Schub gäbe. Die Industrie befürchtet noch weitere Einbußen durch das Sparpaket der Bundesregierung. Höhere Mineralölsteuern und Beiträge für die Renten- und Pflegeversicherung würden die Wirtschaft „einem neuen Kostenschock aussetzen“. Die Realeinkommen werden nach BDI-Einschätzung leicht zurückgehen. Harte Tarifverhandlungen dürften damit bevorstehen.

Der BDI sieht jedenfalls bis auf weiteres keine Anzeichen für einen Aufschwung. Ganz anders Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt. Dem scheinen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes vor den Augen verschwommen zu sein. Er erklärte unverdrossen, die Daten für die neuen Bundesländer böten „einen eindeutigen Beleg für die kräftige Fortsetzung des Wirtschaftswachstums“. Realistischer dagegen der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion: „Die wirtschaftliche Aufholjagd in den neuen Bundesländern wird leise abgeblasen.“ lieb