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■ Die supranationale Kostümierung und das Eingemachte„Nationales Interesse“, gibt's das?

Einige Wochen ist es her, da verblüffte ein Oberst der Bundeswehr die Teilnehmer des Symposions der Friedrich-Ebert-Stiftung, „Die Linke und der Staat“, mit folgender Feststellung: In den Planungsstäben der Regierung habe nach 1989 vollständige Unklarheit darüber geherrscht, worin das nationale Interesse des neuvereinten Deutschlands eigentlich bestehen soll. Verbündete wie ehemalige Feinde seien damals nach Bonn geeilt, um unseren Beamten zu mehr Durchblick zu verhelfen. Viel sei dabei nicht rübergekommen, außer dem Merksatz des „Foreign Office“: „Die Politik des Vereinigten Königreichs hat sich stets vom nationalen Interesse leiten zu lassen.“ Aber was, verdammt noch mal, sollte das sein?

Den Diskussionsteilnehmern schien diese Rede des Obristen reichlich starker Tobak. Hatte das Verteidigungsministerium nicht 1992 ein Strategiepapier vorgelegt, in dem der weltweite Einsatz der Bundeswehr an der Seite der Alliierten zur Sicherung der Seewege und des freien Zugangs zu Rohstoff- und Energiequellen gefordert worden war? War damit nicht Fraktur geredet und das „nationale Interesse“ nicht eindeutig mit den Interessen der „Wirtschaftsmacht“ BRD identifiziert worden? Und hatte diese Stellungnahme nicht das Verdienst der Klarheit gegenüber den Genscheriaden vom vereinten Deutschland als Land ohne Feinde, das vorbehaltlos in Europa aufgehen werde?

Die europäische Verkleidung der BRD

In einer Hinsicht hatte der Oberst recht. Seit 1949 hatten es die verschiedenen Bundesregierungen geschickt vermieden, den Kernbereich eines „nationalen Interesses“ zu definieren. Indem sie auf europäische Einigung setzten, konnten sich die politische Machteliten der BRD den mißtrauischen Nachbarn als Führung präsentieren, die willig zugunsten der EG auf Attribute der nationalen Souveränität verzichtete. Sie konnten das Interesse der westdeutschen Wirtschaft an einem offenen westeuropäischen Markt politisch als Bekenntnis zu Europa verkaufen. Die Westintegration wurde zur politischen Form, vermittels derer vierzig Jahre lang „unsere“ Interessen wahrgenommen wurden.

Die politischen Eliten der BRD haben versucht, über den Zerfall des sowjetischen Hegemonialsystems hinweg die Camouflage „Deutschland gleich Europa“ zu retten. Genscher nahm Thomas Mann in Anspruch: „nicht ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland“. Selbst wo es ins Auge stach, daß spezifisch deutsche (Wirtschafts-)Interessen im Spiel waren, wie zum Beispiel bei der Hochzinspolitik der Bundesbank, wurde hartnäckig an der europäischen Motivation dieser Politik festgehalten. Es gibt wohlmeinende Publizisten wie Timothy Garten Ash, die den Deutschen empfehlen, endlich ihre nationalen Interessen zu definieren und sie gegenüber ihren europäischen abzuwägen. Einfach gesagt, schwer getan.

„Nationales Interesse“ ist keineswegs das Resultat irgendwelcher kaum veränderbarer geopolitischer Bedingungen wie der „europäischen Mittellage“. Es faßt vielmehr die Imperative zusammen, von denen nach Meinung der Machteliten eines Landes die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse abhängt. Daß Deutschland arm an Ressourcen, aber reich an Technik und qualifizierten Arbeitskräften ist, daß es demnach „unserem“ Interesse entspräche, sich für das Überleben der BRD als Exportland einzusetzen, ist zum Beispiel de facto eine klassenübergreifende „nationale“ Annahme. Der militante Gewerkschafter ist sich mit dem hartgesottenen Kapitalisten darin einig, daß es „unserem Interesse“ entspricht, für offene Märkte, unbehinderte Verkehrswege und den freien Zugang zu (möglichst billig sprudelnden) Energie und Rohstoffquellen einzutreten. Fragt sich nur, ob dieser klassenübergreifende Konsens für alle seine Träger von gleichem Nutzen ist. Daran hatte nicht nur der Sozialdemokrat Peter von Oertzen Zweifel, als er auf dem eingangs erwähnten Kolloquium dem Obristen der Bundeswehr sein „Die nationalen Interessen sind nichts als die Interessen der herrschenden Klasse“ entgegenschleuderte. Aber auch die „herrschende Klasse“ zieht es vor, statt von den Interessen der (Wirtschaftsmacht) BRD von irgendeinem luftigen Interessenausgleich zwischen den armen Ländern des Südens und den industrialisierten des Nordens als globale Zielvorstellung zu reden. Was soll also die Rede vom „nationalen Interesse“, wenn es nicht mal zur Propagandaformel der Machteliten taugt? Sollte insbesondere den kritischen Geistern nicht daran gelegen sein, sich mit den „Menschheitsinteressen“ zu begnügen? Gibt es etwas, was im Interesse der Deutschen ist und sich nicht beim zweiten Hinsehen als Klassen- oder Gruppeninteresse entpuppt? Ein solches spezifisches Interesse besteht tatsächlich.

Es geht, nach zwei verschuldeten Weltkriegen, um die Existenz Deutschlands als ziviler Friedensmacht. Aber anders, als die Propagandisten einer „gesteigerten Verantwortung Deutschlands für den Frieden in der Welt“ meinen, erhält dieses absolute Gebot der Friedfertigkeit unter den Bedingungen der Vereinigung eine eigentümliche innenpolitische Wende. Warum?

„Deutsches Interesse“ – ein anderer Zugang

Gestützt auf den ungarischen Gesellschaftswissenschaftler István Bibo können wir sagen, daß die politischen Eliten sich formierender Nationalstaaten die typischen Aufgaben bewältigen mußten, die mit dem Eintritt der jeweiligen Gesellschaft in die Moderne anfallen. Versagten sie darin, ein durchschnittliches Niveau der sozialen Integration zu sichern, scheuten sie insbesondere den Kampf gegen vormoderne (vorbürgerliche) Strukturen, so scheiterte der Versuch der Nationalstaatsbildung, und in der Gesellschaft entstand ein latenter Hang zur Hysterie. Den Menschen gelang es nicht, ihren Gefühlshaushalt als Angehörige einer Nation zu stabilisieren. Sie schwankten zwischen kollektiven Gefühlen der Minderwertigkeit und des Größenwahns. Dieses von Bibo an Deutschland und Ungarn diagnostizierte Krankheitssymptom läßt sich ohne Umstände auf die heutige BRD übertragen.

Die politischen Eliten versagen gegenwärtig in doppelter Weise. Sie scheitern an der Aufgabe, den Transformationsprozeß zur Marktwirtschaft in der Ex-DDR so zu organisieren, daß nicht große Teile der dortigen Bevölkerung wie eigentlich überflüssige „Luftmenschen“ behandelt werden. Und sie sind weder willens noch fähig, die Deutschen für ein Projekt zu gewinnen, das an die Stelle der Schimäre vom ethnisch homogenen Nationalstaat die – staatlich garantierte – Koexistenz der Mehrheits- mit mehreren Minderheitskulturen setzt. Dieses doppelte Versagen vor den Aufgaben der sozialen Integration führt, ganz im Sinne Bibos, zu angst- und damit aggressionsgesteurtem Verhalten, zur kollektiven Neurose. Wenn es ein spezifisch deutsches nationales Interesse gibt, dann das, die Bundesrepublik instand zu setzen, diese Neurose zu überwinden. Dieser Zivilisierungsprozeß ist es, der uns als Deutsche zu interessieren hat. Er begründet zuallererst die so oft bemühte „gestiegene Verantwortung“ vor den anderen Nationen. Christian Semler

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