Fröhliche Vielfalt? Hilflose Einfalt!

Ein 20-Punkte-Programm zur Lage des Fernsehens  ■ Von Dietrich Leder

1) Beim täglichen Durchschalten der 27 Kabelsender drängt sich der alte Pennälerwitz aus dem Englischunterricht auf, demnach der Seenotruf SOS nichts anderes als same old soup heißt. Der enorme Zuwachs an Sendern hat die Programmsubstanz nicht vermehrt noch angereichert. Statt dessen werden die Spielfilme, Serien, Sportsendungen und Gameshows in immer kürzer werdenden Abständen immer häufiger wiederholt. Das gesamte Fernsehangebot wirkt wie die Superzeitlupe einer vollkommen unwichtigen Szene einer der noch unwichtigeren Vorrundenbegegnungen im Tennis oder im Fußball.

2) Die Kohabitation von öffentlich-rechtlichem und kommerziellem Fernsehen heißt wie das Entsorgungsprogramm der Abfallwirtschaft zu recht „duales System“. Es entledigt sich des Abfalls durch einfaches Wiederauftischen: RTL ist mit Programmen der ARD („Columbo“, „Quincy“ und „Miame Vice“) erfolgreich. Sat.1 geht mit denen des ZDF („Raumschiff Enterprise“, „Bonanza“) auf Zuschauerfang. Und Pro 7 wiederholt die einst von Sat.1 wiederholten Serien, ehe sie dann an den Kabelkanal zwecks Wiederholung weitergereicht werden.

3) Mit Ausnahme der medienrechtlich problematischen und programmlich aberwitzigen Konstruktion von Senderfamilien als ein simples Abflußsystem von Film-, Serien- und Sportrechten (Sat.1 und Pro 7 entsorgen beim Kabelkanal und beim Deutschen Sportfernsehen, RTL und RTL 2 und die ARD noch bei Eins Plus, bald auf 3sat und leider auch bei arte) existieren keine bedeutsamen Marktideen. Man orientiert sich am Vollprogramm der amerikanischen Networks oder unternimmt den Versuch des Spartenprogramms mit dem falschen Stoff zur falschen Zeit mit dem falschen Marketing und den falschen Leuten. n-tv – ein Sender so schlecht wie sein Name schlicht. Glückverheißende Titel wie „Viva!“ ändern daran nichts, zumal sich das lebensbejahende Motto wie das Pfeifen des in den Keller gehenden Kindes anmutet.

4) Profitiert vom Privatfernsehboom haben bis heute in erster Linie die Hersteller von Fernseh- Equipment (Kamera, Schneide- und Trickmaschinen, Studioelektronik, Abspielmaschinen etc. pp.). Wenn früher vier Kameras um das Bundeskanzleramt herumlungerten, um die einfahrenden Kraftwagen der Minister aufzunehmen, sind es heute 30, die auf 60 oder 90 Cassetten fast identische Bilder mit den fast identischen Reportern mit fast denselben Mikrophonen mit den unheimlich unterschiedlichen Sendersignets speichern.

5) Die Rede von der Krise des öffentlich-rechtlichen Fernsehens soll vom Desaster des privat-kommerziellen ablenken. Es hat sich zum Schaden seiner Betreiber nicht als das einfache Geschäft herausgestellt, als das es sich manche zurechtgeträumt haben. Ich will hier nicht die Liste aller Namen aufmachen, die in diesem Geschäft als Geschäftsführer, Programmdirektoren, Manager, Redaktionsleiter, Producer gescheitert sind, sondern nur daran erinnern, wie fahrlässig im Sinne der Anleger die Chancen von Sendern durch die Zwistigkeiten der Gesellschafter (Sat.1), durch eklatante Planungs- und Konzeptfehler (Vox), durch penetrante Selbstüberschätzung (n-tv), durch Personalprobleme (DSF) oder strategische Unsicherheiten (premiere) getrübt wurden. Viele Fernsehgesellschaften scheinen nichts anderes als Abschreibefirmen, die nur zum Zwecke erheblicher Verlustzuweisungen gegründet wurden.

6) Jenseits von RTL (gewieft dank der Branchenkenntnisse des Billiganbieters CLT und dank des Trendsettings seines Chefverkäufers Thoma) hat nur Leo Kirch am Fernsehboom verdient. Seine Firma hortet seit vielen Jahren die Rechte diverser Spielfilme, Serien und Sportereignissen, die er an die Meistbietenden auf Zeit weiterveräußert. Damit nichts auf Halde liegt, haben sich Leo und Thomas Kirch an diversen Sendern beteiligt. Dort verdienen sie dank ihrer Lizenzen selbst dann schon Geld, wenn die Sender noch rote Zahlen schreiben. Andere Gesellschafter wie beispielsweise die deutschen Zeitungsverleger, die über die APF an dem von Kirch dominierten Sender Sat.1 beteiligt sind, schauen diesem nur für sie nicht profitablen Spiel staunend zu. Und die Öffentlichkeit wunderte sich, mit welcher Leichtigkeit Leo Kirch die Parole der Studentenbewegung „Enteignet Springer!“ in die Tat umsetzte. Daß er seine Waren selbst dann noch los wird, wenn sie angestoßen und angestaubt aussehen, verdankt Leo Kirch seinen fürsorglichen Handreichungen, den bestens geknüpften Seilschaften und dem soliden politischen Druck.

7) Pro 7-Chef Georg Kofler, eine Art Pater Leppich des Kommerzfernsehens, stilisiert das Imperium von Leo Kirch gern zum Fleisch gewordenen Ideal der Fernseh- marktwirtschaft. Aber dieses kitschige Heiligenbildchen ist nur ein billiger Tarnanstrich, der die Wahrheit schlecht übertüncht. Denn Kapitalisten wie Kirch hassen nichts mehr als den Wettbewerb. Ihr Wirken zielt auf das glatte saubere Monopol, das ihnen Ärger, Probleme und Zukunftssorgen abnehmen könnte. So stört Leo Kirch derzeit besonders der Konkurrent RTL, der die Einkaufspreise der Spielfilm- und Serienware in die Höhe treibt, die Verkaufspreise der Werbeplätze unterbieten könnte und dummerweise auch noch beim Publikum erfolgreicher ist.

8) RTL-Chef Helmut Thoma wiederum schlägt verbal gerne auf den Kohl-Freund Kirch ein, weil das ihm und seinem Sender das Wohlwollen der SPD-regierten Bundesländer sichert. Daß er in den letzten Wochen fast genauso freudig auf Alexander Kluges DCTP eindrischt, ist ein Freundschaftsdienst für das Haus Bertelsmann, das sich Kluges Programmen auf Vox gerne entledigen möchte. So entsteht die Dolchstoßlegende, es hätte an den Angeboten der DCTP („Spiegel Thema“, „Spiegel-Interview“, „S-Zett“, „Die Zeit TV-Magazin“, „100 Minuten Vielfalt“) gelegen, wenn die Vox- Gesellschafter am 22. Oktober das Ende des Senders beschließen sollten.

9) Die Tatsache, daß die Rede von der Krise des öffentlich-rechtlichen Fernsehens von seinen privaten Konkurrenten geschwungen wird, ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Daß das ZDF sehenden Auges in die derzeitige ökonomische Zwangslage galoppierte, läßt am planerischen Sachverstand der zentralistischen Anstalt zweifeln. Das Programm ist grotesk veraltet und weist nur weitab vom Schuß (ZDF-Zulieferungen an arte) neue Ideen auf. Das Personal wurde zwar nach politischer Farbenlehre feinstjustiert, aber ist demotiviert und frustriert. So wächst in Mainz die blinde Panik: An Fehleinkäufen wie dem ehemaligen Unterhaltungschef Neumann wird geschäftsschädigend lange festgehalten, während man bei den freiberuflichen Moderatoren das Rotationsprinzip („Großer Preis“ und „Live“) ausprobiert. Und ausgebrannte Brennstäbe des privaten Fernsehens wie Thomas Gottschalk werden kostenfrei wiederaufbereitet.

10) Das ZDF wirkt derzeit so müde und abgeschlafft, daß der Mainzer Sender und eben nicht (wie von Grimme-Chef Lutz Hachmeister flott in der Woche behauptet) die ARD vor dem Aus steht. Die ARD schützt das, was ihr strukturell am meisten Probleme aufhalst: ihre föderative Struktur. Solange das Saarland oder Bremen als Bundesländer bestehen bleiben, wird auch die Zahl der ARD-Anstalten nicht sinken. Das bindet die Landespolitiker ebenso eng wie fürsorglich an ihre Landesrundfunkanstalten. Mit allen Folgen, die eine solche durch Gebühren alimentierte Liebe besitzt: Der Landtagfunk, das Bürgermeister-Interview, die Live- Sendungen aus den provinziellen Sporthallen zieren die Dritten Programme wie ein Kropf.

11) Den ARD-Anstalten wäre es durchaus möglich, die Dritten Programme zu rekultivieren. Sie müßten auf die Nischen setzen, in denen heute noch große Programmkenntnisse, Experimentierfreude und Entdeckerlust zu finden sind. Gleichzeitig können sich die einzelnen Anstalten dank ihrer vielfältigen Produktionsstruktur (mehrere Hörfunk- und Fernsehprogramme) leichter als das ZDF von innen reformieren. Der Wille und die Kraft dazu sind von Anstalt zu Anstalt unterschiedlich. Dort, wo am lautesten von Strukturreform gesprochen wird, wird sie am wenigsten betrieben. Wenn der SFB-Intendant eine Firma für mehrere Millionen Mark beauftragen muß, um leerstehende Studios im eigenen Haus zu entdecken und die Kameralistik als Hauptübel des öffentlich-rechtlichen Systems zu entlarven, beweist er, daß er wie seine diversen Vorgänger in den letzten Jahren Teil der Malaise ist, die er zu bekämpfen behauptet.

12) Die ARD leistet sich nicht nur den Luxus zahlreicher Radio- und Fernsehprogramme, sondern auch den der inneren Freizügigkeit. Was anderswo als Parteien- oder Unternehmensverrat gilt, wird in der ARD als Meinungsfreiheit hochgehalten – jedenfalls für Intendanten. Wie soll man anders die zurückhaltenden Reaktionen auf den Artikel verstehen, in dem der SWF-Intendant Peter Voß in einem Blatt des Springer-Konzerns (Sat.1, DSF, ISPR etc.pp.) über die ARD-Fernsehkommentare zu Solingen herfiel? Man stelle sich vor, der Vorstandsvorsitzende von Mercedes tadelte in der Hauszeitschrift von BMW die eigene Produktpolitik! Als der Chef von Sat.1 den überteuerten Rechteeinkauf des eigenen Hauses beim Fußball leise kritisierte, flog er sofort.

13) Die notwendigen Reformen des öffentlich-rechtlichen Systems werden um Entlassungen beim Personal und um Honorarreduktionen nicht herumkommen. Das ist eine notwendige Folge der jahrzehntelangen Überschätzung und Überbezahlung der besonderen Arbeitsleistungen in dem und für das Fernsehen. Hinzu kommt die Wettbewerbssituation: Einer wachsenden Fülle von Anbietern steht eine sinkende Nachfrage gegenüber. Die Hausse weicht der Baisse. Auch im Umkreis der kommerziellen Veranstalter ist zukünftig mit Geschäftspleiten zu rechnen. Bricht beispielsweise Vox zusammen, dann reißt der Sender nicht seine Gesellschafter, sondern eine Reihe von Zulieferern mit.

14) Das Programmrecycling beschädigt das ohnehin bescheidene Ansehen des Fernsehens, von dem man zukünftig nichts Überraschendes mehr erwartet. Selbst das Neue und das Junge erscheint einem altvertraut: So sehen die jungen Moderatoren und sonstigen Fönfrisuren der Kommerzsender nur deshalb so jung aus, weil ihnen die Angst, alt zu werden, so überdeutlich in die Körperfläche zwischen Haupthaar und Hals eingeschrieben ist. Der Mangel an Innovation mag für ein älteres Publikum, das sich ohnehin nicht aus dem Haus bewegen will, bedeutsam sein, aber nicht für die kaufkräftigen jüngeren Zuschauer. Wie viele Zuschauer hat der Gameboy das Fernsehen gekostet?

15) Dank seines Imageverlustes können sich die Werbeeffekte des Fernsehens ins Gegenteil verkehren. Schlechte Programme, die gesponsort werden, beschädigen die Produkte, für die das Sponsoring Aufmerksamkeit erzeugen wollte. Hinzu kommt die schlechte Plazierung der Werbung: Wie viele Zuschauer kaufen kein Snickers und kein Mars mehr, weil sie sich an der Reklame dieser Produkte so gestört haben wie am Vertreter der Mannheim-Münchnener oder am Segelohrfritzen der Postbank? Und wie vielen Zuschauern wurde die Vorstellung, Holsten-Bier zu trinken, durch die Sendung „ran“ für immer ausgetrieben?

16) Die permanente wie penetrante Werbung (wie die Leichtathletik-Weltmeisterschaften zeigen, auch bei ARD und ZDF) wirkt weniger nach innen wie nach außen. Dank der Satelliten-Technik wird durch die Fernsehprogramme ein Bild der bundesrepublikanischen Wirklichkeit gezeichnet, das wie ein Werbeprospekt aller Schlepperorganisationen in Osteuropa aussieht. Neben dem tatsächlichen Luxus in den westeuropäischen Staaten ist es vor allem diese Propaganda einer luxurierenden Warenwelt, die die Verarmten aus aller Welt anzieht.

17) ZuschauerInnen sprechen heute nicht mehr über Fernsehprogramme. Dieser Verlust an Aufmerksamkeit und Trendsetting kann durch das endlose Gerede über jene, die das Fernsehen machen, präsentieren und verkaufen , nicht wettgemacht werden. Auch die Tatsache, daß auf immer mehr Medienforen dieselben Personen immer häufiger dieselben Worte über dasselbe Programm wechseln, spricht dafür, daß das Fernsehen gesellschaftlich an Bedeutung verliert.

18) Wer bestimmte Wirkungen von Fernsehsendungen behauptet, kann diese meist noch nicht einmal richtig beschreiben, weil er sie nie gesehen hat. So ist in der Rede öffentlich-rechtlicher Fernsehvertreter immer noch von den „Brüllshows“ der privaten Sender die Rede, obgleich doch mangels Interessenten der Lärmpegel von „Der heiße Stuhl“ oder „Einspruch!“ längst gesunken ist. Wenn Peter Schneider (erst in der FAZ, bald im Kursbuch) Live-Übertragungen von der „erfolgreichen Stürmung eines Asylantenheimes“ erwähnt, dann hat er nicht ferngesehen, sondern phantasiert. Die Ü-Wagen tauchten erst nach dem Angriff auf die vietnamesischen Gastarbeiter in Rostock und nach den Brandanschlägen in Mölln und Solingen auf. Und Nachahmungstaten existieren seit der ersten Verbreitung von Büchern und Zeitungen.

19) Auch die Behauptung, die Persönlichkeit der Zuschauer formte sich heute nach dem Abbild der Abbilder (ein Gedanke, den Günter Anders sich von Adorno pumpte und nicht zurückgab), scheint mir ein Irrtum. Oder hat das Videospiel, die Zeichentrickserie, der Film „Super Mario Bros.“ zu einer Zunahme von italienischen Klempnern geführt?

20) Gefährlicher als all das scheint mir die neue Klassenspaltung im Fernsehen. Sie bildet die der Gesellschaft nach und verstärkt sie gleichzeitig. Demnach würden Pay-TV- und Pay-Per-View-Programme die gehobenen Fernsehwaren anbieten, während Billigprogramme die vergammelten Waren unter das gemeine Volk bringen. Das heißt, es wird sehr teuer werden, von Werbung nicht belästigt zu werden. Das werden sich nur wenige leisten können.