■ "Sozialer Mißbrauch": Nicht Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, sondern Besserverdienende und Unternehmer können im System der Sozialausgaben und Steuern absahnen: Wer hat, dem wird gegeben
Wer hat, dem wird gegeben
Manche Dinge sind nur eine Frage des Standorts. Stellen Sie sich vor, im Info-Blättchen eines Sozialhilfe-Beratungsladens stünde der Satz: „Der Staat ist ein guter Zahlmeister.“ Empörte Reaktionen bei den Normalbürgern wären wohl die Folge. In einem Wirtschaftsmagazin auf Hochglanzpapier dagegen wirbt diese Zwischenzeile ganz offen für Steuertricks. Und gewinnt so mit augenzwinkernder Solidarität die gutbetuchte Leserschaft. Denn wer schon viel hat, darf noch mehr abzocken – das zeigt eine Recherche im System der Steuern und Sozialabgaben.
„Nirgendwo sonst sind die Kontrollmöglichkeiten des Leistungsmißbrauchs so stark ausgeprägt wie bei den Arbeitslosen“, meint DGB-Sozialexperte Wilhelm Adamy, „ganz anders aber bei den Betrieben, bei Subventionen und Steuerdelikten.“ Abwälzen, Hinterziehen, Lügen – die Praktiken in Unternehmen und bei Selbständigen reichen von moralisch fragwürdig bis betrügerisch.
Moralisch fragwürdig ist beispielsweise die Masche der Betriebe, ältere Beschäftigte in den sogenannten vorzeitigen Ruhestand zu schicken, selbstverständlich auf Kosten der Arbeitsämter. „Zu Beginn der siebziger Jahre waren das nur Einzelfälle“, erinnert sich ein ehemaliger Personalvorstand eines großen Industrieunternehmens. „Inzwischen machen die Firmen mehr und mehr Gebrauch davon.“
Und so wird's gemacht: Geht ein 57jähriger Facharbeiter, muß das Arbeitsamt in der Regel 32 Monate lang Arbeitslosengeld gewähren. Auf 80 Prozent des Tariflohns oder mehr stockt die Firma auf. Gut 65.000 Mark kann so ein vorgezogener Ruhestand die Versichertengemeinschaft kosten, der Betrieb dagegen kommt mit 25.000 Mark „Zuschuß“ weg. „Man könnte hier schon die Frage stellen, ob die Unternehmen sich da nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft verjüngen“, formuliert vorsichtig Eberhard Mann, Sprecher der Bundesanstalt für Arbeit (BfA) in Nürnberg. Zwar gibt es einen Paragraphen im Arbeitsförderungsgesetz, der die Betriebe bei der Entlassung Älterer unter Umständen zur Rückerstattung des Arbeitslosengeldes verpflichtet. Die Ausnahmebestimmungen aber „bieten einen großen Spielraum“, so Mann.
Die Belastungen bei den Arbeitsämtern durch diese Praxis gehen in die Milliarden, dies wiederum erhöht die Versicherungsbeiträge: Lohnnebenkosten, über die gerade Unternehmer so gerne jammern. Manchmal sparen Arbeitgeber die Lohnnebenkosten daher auch gleich völlig ein. „Wir beobachten immer öfter das Phänomen der Scheinselbständigkeit“, erzählt Sozialexperte Adamy vom DGB. Der Trick: Bauarbeiter, Transportfahrer oder Textverarbeiterinnen werden entlassen und dürfen dann als „selbständige“ Gipskartonplattenbeförderer, Speditionsunternehmer oder Software-Spezialisten weiter ausschließlich nur für ihre alte Firma tätig sein. Ohne Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, auf eigenes Risiko und eigene Versicherung. Einsparung des Arbeitgebers bei einer mittleren Fachkraft: 20.000 Mark im Jahr. Da Selbständige keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen, verliert die BfA solcherart 300 Millionen Mark an Beiträgen jährlich, hat der DGB errechnet. Auf 100.000 bis 150.000 schätzt er die Zahl dieser Scheinselbständigen allein im Westen.
Gemauschel bei den Sozialabgaben ist der eine, Lügen bei der Steuer der andere Kunstgriff, mit dem Unternehmer und Besserverdienende zum eigenen Vorteil große Löcher ins soziale Netz schneiden. Auch hier wird der Zugriff immer hemmungsloser. Bundesfinanzminister Waigel beklagte unlängst, daß bei der Steuerpflicht „Mißbräuche und Umgehungen zunehmen“. Seine 12.000 Betriebsprüfer trieben im Jahre 1992 ganze 14 Milliarden Mark an Steuern ein – fast ein Drittel mehr als im Jahr davor. Die unentdeckten steuerlichen Mindereinnahmen werden von den CDU-Sozialausschüssen (CDA) auf 60 Milliarden jährlich geschätzt. Tendenz steigend.
„In Mittelbetrieben gibt es die meisten Möglichkeiten“, erklärt Paul Courth von der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG). Der jüngste Mißbrauchsbericht des Bonner Finanzministeriums nennt die gängigen Manöver: „Verträge zwischen nahen Angehörigen“, „Absetzen von privaten Kosten als betriebliche Ausgaben“, „zu geringe oder zu hohe Angaben auf Kaufverträgen“ und für Großverdiener vor allem „unterlassene Angaben zu ins Ausland transferierten Kapitalvermögen“. Beim letzten Punkt ist die Steuermoral gen Null gesunken. Offen werben Banken für ein Konto im Ausland – und dabei auch mit einem Augenzwinkern für die Hinterziehung der Zinssteuern. Motto einer schottischen Bank: „Wanna be my Schotterboy?“
Wer das „Know-how“ hat, kann gut verdienen, oft auch an den kleinen Schummlern. Die illegale Beschäftigung ist der Bereich, in dem große Abzocker und kleine Schummler eine merkwürdige Allianz eingehen. Die Einkommensunterschiede aber bleiben gewaltig. Bei einer Razzia des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg ging den Prüfern ein Bautrupp mit 100 Leuten ins Netz. Jeder verdiente „schwarz“ 20 Mark pro Stunde, 70 von ihnen bezogen außerdem Arbeitslosengeld. Der Verleiher kassierte vom Auftraggeber einen Stundensatz von 40 Mark – und kam so auf 2.000 Mark Gewinn, stündlich wohlgemerkt. „An solchen großen Fischen sind wir mehr als an den kleinen interessiert“, betont Peter Hielscher vom Landesarbeitsamt. „Aber wenn wir dann hinkommen, sind die schon längst über alle Berge.“
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