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Mit steigender Akzeptanz ging der Biß verloren

■ Die Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle (Sekis) feiert Zehnjähriges

„Wenn wir nicht so viele Selbsthilfegruppen hätten, wäre die soziale Not in unserem Bezirk noch viel größer“, sagt Köpenicks Sozialstadträtin Helga Walter. Von 30.000 Arbeitsplätzen in ihrem Bezirk existieren noch 6.000, 47 Prozent der KöpenickerInnen sind über 45 und damit weit abgeschlagen im Kampf um einen neuen Job. Der Alkoholismus steigt und damit auch die Anzahl der Selbsthilfegruppen, die die Sucht bekämpfen. „Das System darf sich nicht auf die Selbsthilfe stützen“, sagt Helga Walter, „doch ich befürchte, das genau geschieht.“

Das Spannungsfeld zwischen Selbsthilfe und Sozialstaat in Zeiten von Arbeitslosigkeit und finanzieller Knappheit war Thema einer Talk-Runde am Geburtstag der Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle (Sekis). Seit zehn Jahren verbindet Sekis zwischen professionellen und privaten Aktivitäten, informiert Leute, die sich selbst helfen wollen, und unterstützt Projekte. Schwerpunkt ist dabei der Gesundheitsbereich.

Damals wäre es nicht so brav zugegangen wie heute, beurteilt Ulf Fink, DGB-Vize und damaliger Sozialsenator, die Geburtstagsfeier. Selbsthilfe sei aus der Kritik am Sozialstaat entstanden und müsse daran festhalten: „Der Staat kann nicht sämtliche Probleme der Welt lösen.“ Fink hat Sekis und das Berliner Modell der Selbsthilfeförderung mit aus der Taufe gehoben und dafür Kritik von beiden Seiten eingesteckt: Von den alternativen, autonomen Gruppen, denen die senatsfinanzierte Sekis zu staatsnah war. Sie befürchteten, kontrolliert, korrumpiert und zur Verbilligung von sozialen Leistungen ausgenutzt zu werden. Aber auch die Profis, die ÄrztInnen und SozialarbeiterInnen, traten auf den Plan. Sie sahen ihre Autorität davonschwimmen, hatten Angst vor Pfusch und der Untergrabung ihrer Professionalität. „Die erste Zeit war bestimmt davon, nach allen Seiten für Selbsthilfe zu werben“, erinnert sich Karin Stötzner, die Leiterin von Sekis. Diese Phase ist heute vorbei. Sekis ist akzeptiert, Selbsthilfe selbstverständlicher Teil des Gesundheits- und Sozialbereichs. Sie ist nicht mehr nur „Spielwiese“ für Mittelschichtsfrauen zwischen 35 und 50, den damaligen Hauptakteurinnen. So treffen sich heute beispielsweise Seniorinnen mit Knochenschwund bei Sekis. Doch mit steigender Akzeptanz ging der Biß verloren: „Eine Bewegung gibt es nicht mehr, die Selbsthilfe ist entpolitisiert“, sagt Karin Stötzner. „Sie mischt sich heute in gesellschaftskritische Debatten viel zu selten ein.“ Das kritisiert auch Marina Schnurre von der Selbsthilfe Krebs: „Wir kämpfen nur noch um Räume und Gelder und nicht mehr um größere Veränderungen.“ Ihre Hoffnung sind die Gruppen im Ostteil der Stadt. Doch mit denen klappt der Dialog noch nicht. Für Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, hat Selbsthilfe noch immer Biß. Sie sei ein Seismograph für Fehler in der Sozial- und Gesundheitspolitik: „Eine Motivationskraft, die aber nicht lösen kann, was die tun müssen, die die Macht dazu haben.“ Sabine am Orde

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