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Noch drei Millimeter bis zum Atomunfall

■ AKW Ohu in Bayern lief trotz tiefer Risse in den Rohren weiter / Spezialstahl reißt im Betrieb

Berlin (taz) – In bayerischen Atomkraftwerken hat Sicherheit nicht in jedem Fall Vorrang vor Wirtschaftlichkeit. Obwohl dem Umweltministerium des Freistaates bekannt war, daß bestimmte Stahlrohre im Kernbereich des AKW Ohu 1 bei Landshut beschädigt waren, durfte der Atommeiler im Sommer 1992 wieder anlaufen. Beim Austausch der Rohre und eines Pumpensystems in diesem Sommer fanden die Behörden insgesamt 23 Risse. Die Risse waren bis zu 16 Zentimeter lang und bis zu 9 Millimeter tief in die Rohre eingefurcht. Die Rohre selbst waren nur maximal 12 Millimeter dick.

Diese ungewöhnliche Sicherheitspraxis brachte für die Betreiber des Siedewasserreaktors, das Bayernwerk und die Isar- Amper-Werke, erhebliche wirtschaftliche Vorteile. Hätte das Ministerium schon im Sommer 1992 auf einem Austausch der Rohre bestanden, hätte Ohu 1 mehrere Monate lang stilliegen müssen – mit den entsprechenden Verdienstausfällen für die Unternehmen.

Nicht nur die Einwohner des benachbarten Landshut sollten tief durchatmen. Neben Ohu sind auch die Siedewasserreaktoren Philippsburg 1, Würgassen (NRW) und Brunsbüttel (Schleswig-Holstein) durch die neuen Funde indirekt betroffen. Im bayerischen Umweltministerium hat sich nämlich inzwischen die Ansicht durchgesetzt, daß die austenitischen Rohrleitungssysteme in den deutschen Siedewasserreaktoren nicht unbedingt sicher sind. Anders als von AKW-Betreibern und dem AKW-Bauer Siemens behauptet, glauben die Bayern inzwischen, daß die Risse im laufenden Betrieb des Reaktors entstanden sind.

„Es spricht einiges dafür, daß die Risse betriebsbedingt sind“, so ein Sprecher des Münchner Umweltministeriums am Freitag. Atombereichsleiter Vogel erklärt, daß sogar an einer der beiden Rißstellen, die schon 1992 „ausgebessert“ wurden, erneut ein 10 Millimeter langer Riß aufgetreten sei. Die Bayern schlagen sich mit dieser neuen Interpretation auf die Seite der schleswig-holsteinischen Atombehörde. Die hatte nach ähnlichen Problemen im AKW Brunsbüttel im Frühjahr ihren Reaktor vorläufig abgeschaltet. Adolf Birkhofer, der Chef der Reaktorsicherheitskommission, erklärte dagegen noch vergangene Woche kategorisch: „Die Ursache der Risse ist fertigungsbedingt.“

Während Atomwissenschaftler wie Lothar Hahn vom Öko-Institut in dieser Situation die Abschaltung aller betroffenen Reaktoren und flächendeckende Untersuchungen aller austenitischen Bauteile fordern, läßt sich Bayern damit Zeit. Die Betreiber sollen künftig nur ihre Untersuchungen intensivieren. Bislang, so Vogel, seien bei jeder Jahresrevision ja nur 10 bis 15 Prozent aller Leitungen untersucht worden. ten

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