piwik no script img

■ Rüsselsheimer Lokalpolitiker diskutieren in der WagenstadtHoffnung für die Rollheimer?

Rüsselsheim (taz) – Nach beinahe vier Jahren, die sie sich durch das lokalpolitische Unterholz des deutschen Behördendschungels geschlagen haben, soll es jetzt den Rollheimern in der Opelstadt Rüsselsheim an die fahrbaren Unterkünfte gehen. Heute sollte eigentlich die Duldungsvereinbarung mit der Stadt für den Bauwagenplatz am Sommerdamm auslaufen. Die Bauwagensiedlung, auf einem brachliegenden Grundstück zwischen Bundesstraße und Schwimmbad mit Blick auf das örtliche Eroscenter nicht allzu idyllisch gelegen, ist der sozialdemokratischen Stadtverwaltung ein arger Dorn im Auge. Bis vor kurzem mußten die zwanzig Leute noch mit der Zwangsräumung rechnen. Der Stadt war der unkrautüberwachsene Acker plötzlich als wichtiger Bestandteil des Main-Überflutungsgebiets geradezu ans Herz gewachsen, nachdem die Bauwagenleute schon von dem alten Standplatz nebenan (ein „Landschaftsschutzgebiet“, in dem Fußballbegeisterte der Stadt gleich hordenweise kicken) aus „Umweltgründen“ vertrieben wurden. Und weil die Verwaltung davon ausging, daß sich das Problem Bauwagensiedlung von alleine löst – „Die hofften immer darauf, daß wir das Handtuch werfen“, bestätigen die Rollheimer –, wurde der Wagenburg auch kein provisorischer Wasser- oder Stromanschluß gelegt.

Bis hier ist die Geschichte wohl ziemlich identisch mit der Situation vieler Wagenburgen in der Republik. Doch in den vergangenen Wochen hat sich das Blatt für die Rollheimer offenbar gewendet: Nach einem zweifachen Wahldesaster für die SPD, deren Koalition mit der CDU geplatzt ist und die den Oberbürgermeisterposten von Norbert Winterstein an die CDU- Frau Otti Geschka abtreten mußte, gibt es wieder Hoffnung für die Rollheimer: Beide großen Parteien können nicht allein regieren. Die potentiellen Bündnispartner Grüne, Liste Rüssel und fNEP haben sich aber mit der Bauwagensiedlung solidarisiert. Wer ihre politische Macht will, darf nicht an den Problemen der Bauwagensiedlung vorbeischauen. Außerdem könnten die beiden Kleinstparteien zusammen mit zwei Stimmen der Grünen durch ihr Veto die politische Arbeit im Stadtparlament lahmlegen. Von der plötzlichen Macht von unten beeindruckt, machten sich in den vergangenen Tagen die etablierten Politiker auf den Marsch in die Wagensiedlung, um mit den Rollheimern zu verhandeln. Die ersten waren FDP-Fraktionschef Wolfgang Merz und sein Fraktionskollege Christian-Thorsten Otto, die mutig ihren lokapolitischen Gang nach Canossa antraten. Denn niemand kann zur Zeit abschätzen, wie die im Wahlkampf gehätschelte Bürgerschaft eigentlich auf die produktive Auseinandersetzung liberaler und christdemokratischer Politiker mit der Bauwagensiedlung reagiert. Sogar die CDU stellt ein Gespräch in Aussicht, in dem es um Alternativen zur Räumung gehen soll.

Schwankt nun der durchschnittliche Rüsselsheimer als solcher eher zum konservativen Lager und verteufelt die Wagenburg schon wegen ihres nicht eben alltäglichen Aussehens, oder ist man tolerant genug, um die alternative Wohnform zumindest anzuerkennen? Schließlich haben 20 Menschen in einer von der Wohnungsnot gebeutelten Kommune eine Bleibe gefunden. Noch herrscht jedenfalls eine große Unsicherheit unter den Parlamentariern, die aus einem Sachzwang heraus mit einer Gruppe reden müssen, die bis dato von den großen Fraktionen als politisches Nichts behandelt wurde. Doch der Aufschub für die Zwangsräumung scheint erst einmal gesichert zu sein: Bürgermeister Gerhard Löffert (SPD) gab in einem Brief an die Bauwagenleute eindeutig zu verstehen, daß er die sofortige Räumung der Bauwagensiedlung angesichts des bevorstehenden Machtwechsels an der Spitze der Verwaltung für äußerst unwahrscheinlich halte. Doch auf vage Vermutungen wollen die Rollheimer nicht bauen – sie erstreben natürlich nicht nur einen Aufschub auf unbestimmte Zeit, sondern ein unbegrenztes Bleiberecht für ihren Platz. Peter Thomas

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen