Nachschlag

■ „Gespenstersonate“ am Deutschen Theater

Direktor Hummel ist alt und sitzt im Rollstuhl. Er hat eine Obsession: Er sammelt Menschen. Er spioniert die Nachtpunkte ihrer Biographie aus und macht sie zu seinen ewigen Schuldnern. Oder er lockt sie mit Versprechungen in seinen blutsaugerischen Dunstkreis. Letzteres passiert einem Studenten, dem er eine Erbschaft und die schöne Tochter des Oberst als Frau in Aussicht stellt. Er zeigt sich aber, daß der Oberst gar kein Oberst ist und seine Tochter eigentlich die des alten Hummel. Die dazugehörige Mutter verbringt ihr Leben seit Jahrzehnten in einem Wandschrank, spielt, sie sei ein Papagei und verpuppt sich allmählich zur Mumie nach ihrem Sündenfall mit Hummel. Dann gibt es auch noch das Milchmädchen, das von Hummel vor Jahren ertränkt wurde und deren Geist stumm und anklagend gelegentlich über die Szene schwebt. Und die Köchin im Hause des Obersten. Sie nimmt allem, was sie berührt, die Nährkraft.

August Strindbergs 1907 verfaßtes Kammerspiel „Gespenstersonate“ zeigt eine wahrhaft geisterhafte Gesellschaft, die an den eigenen Verdrängungen, Lügen und Zwangsneurosen zu ersticken droht. Das ist auf die eine oder andere Art immer aktuell. Es gibt jedoch leider auch eine Moral: Hummel, der sich auf einem – nach dem Aussehen der Teilnehmer benannten – „Gespenstersouper“ zum Richter über die anderen aufschwingt, wird selbst gerichtet und erhängt sich im Wandschrank. Der Student, der im Laufe seiner Werbung um die Tochter immer tiefere Einsicht in die Verhältnisse erlangt und emphatisch seine Verachtung kundtut, treibt seine Geliebte (die bislang im Duft giftiger Hyazinthen vor sich hinvegetierte) damit in den Tod. Kehraus. Vorhang.

Friedo Solters Inszenierung im Deutschen Theater folgt der expressionistischen Anklage gegen die Fäulnis der Gesellschaft ungebrochen bis zum fragwürdigen Ende. Das fuchtelt und dräut, irrlichtert und explodiert, und am Ende steht die Erkenntnis, daß es ein Elend ist mit dieser Welt, es aber dennoch welche gibt, die reinen Herzens sind. Warum, so fragt man sich, gehört diese Moral ins Repertoire des Deutschen Theaters?

Würde der Student voll Grausen aus dem Hause fliehen und sich Hummel in der Gesellschaft der Untoten für immer niederlassen, dann hätte die Inszenierung immerhin noch seine Berechtigung. Aber die moralische Wendung ist heuer nur schwer erträglich. Nach Kafka, nach Beckett lassen sich die menschlichen Höllen doch nicht mehr als durch menschliche Einsicht lösbar darstellen. Solters Arbeit ist bestenfalls Anschauungsunterricht für ein Theatermuseum.

Und genauso wird es, bei aller im Deutschen Theater selbstverständlichen Kunstfertigkeit, auch gespielt. Christian Grashof bellt aus dem Rollstuhl den Hummel. Ein diabolischer Jammerlappen, der auf seinen vier Rädern Pirouetten dreht. Er macht das überzeugend und preßt auch hin und wieder eine komische Nuance aus seiner Blutegelfigur. Auch Jutta Wachowiak in Greisinnenmaske, Katrin Klein als hysterische Tochter oder Bärbel Bolle als Küchenvampir – wohlgeratene Holzschnitte, aber fern, fern, fern. Petra Kohse