So nennen wir den Staat

■ „Leviathan“ von Dea Loher im Niedersächsischen Staatstheater Ballhoff

Raschen Schrittes, in hautengen Abendkleidern und schwarzen Smokings, maskenhaft bleich geschminkt, betreten vier Frauen und drei Männer vom abschüssigen Bühnenhintergrund die weiße Bühnenschräge, kommen zur Rampe vor, stellen sich nebeneinander und zitieren im Chor, was Dea Loher ihrem neuen Stück „Leviathan“ als Motto voranstellte: „Der große Leviathan (so nennen wir den Staat) ist ein Kunstwerk oder ein künstlicher Mensch – obgleich an Umfang und Kraft weit größer als der natürliche Mensch, welcher dadurch geschützt und glücklich gemacht werden soll.“ Die Spiegelwände, die die grell ausgeleuchtete Bühne seitlich begrenzen, reflektieren die Gruppe. Was repräsentiert sie in dieser mehrfachen Spiegelung? Den Staat? Den künstlichen Menschen? Ein Abbild? Ein Gegenbild? Antje Lenkeit, Regisseurin, und ihr Bühnenbildner Peter Brower provozieren die Frage zu Beginn der beeindruckenden Uraufführung des Stückes, das die Geschichte der Ulrike Meinhof, Marie genannt, und der RAF fürs Theater aufbereitete. Aktuell politische Themen hat Dea Loher, die Autorin, schon in ihrem KZ-Stück „Olgas Raum“ und in dem Inszest- Drama „Tätowierung“, für das sie gerade zur Nachwuchsdramatikerin 1993 gewählt wurde, aufgegriffen. In „Leviathan“ interessiert sie sich – wie schon Titel und Motto andeuten – weniger für psychologische als für die politisch-philosophischen Dimensionen des Stoffes. In knapper, rhythmisierter Sprache und exemplarisch verdichtet werden in 16 Szenen, vier davon chorisch angelegt, verschiedene Aspekte, die zu Meinhofs Entscheidung für den Guerillakampf führten, beleuchtet: ihre Parteinahme für den Terroristen Karl (alias Baader) und gegen den Ex- Mann (alias Röhl) und die etablierte Gesellschaft und das Unvermögen, sich mit einem Leben als Mutter zu befrieden. Besonderes, Neues über die Journalistin und spätere Terroristin kommt dabei nicht zur Sprache. Allerdings enthalten vor allem ihre Auseinandersetzungen mit der Schwester, Christine genannt, und mit Luise, der jungen Protestantin (alias Gudrun Ensslin), Spannungsmomente, die die Tragödie der Frau in der Gesellschaft sichtbar machen.

So sperrig, ja papiernern, sich der Text zeigt, in der Inszenierung von Antje Lenkeit gewinnt er beachtliche Dimensionen. Die Choreographie von Musik (Jörg Schaffer) und Spiel und Licht auf der kargen Bühne schaffen eine Spannung, die bis zu Ende gehalten werden kann. Beachtlich ist vor allem auch die Leistung der SchauspielerInnen (Felicatas Ott, Verena Reichhardt, Harald Baumgartner, Jakob Johannes Klaffke, Caroline Nagel, Adrian Furrer, Maike Bollow), die sich – auch in der Präsentation der Chöre als Ensemble auf hohem Niveau zeigen.

Zwischen Typisierung, Stilisierung und psychologisierender Fundierung werden die Figuren deutlich. Neben Felicatas Ott als Marie profiliert sich vor allem Verena Reichhardt als Christine. Die Krankenschwester, die die flüchtige Marie nur widerwillig aufnimmt, ihre Begegnungen mit ihrem Ex-Mann und den Terroristen ermöglicht und sie in eine Auseinandersetzung über ihre Situation zwingt, erweist sich als heimliche Protagonistin des Stücks. Ihr, die ihren politischen Protest als Ladendiebin auslebt und bei aller Bewunderung der Schwester am Ende doch nicht mit nach Syrien fliegt, wird auch das Schlußwort zugesprochen: „Und bei uns ist alles so wie immer.“

Die Entscheidung für und gegen den Guerillakampf, die auch die anderen Figuren treffen oder getroffen haben, zeigt sich in ihren vielfachen Spiegelungen im leeren Raum als Spiel zwischen Unschuld und Schuld, zwischen Lächerlichkeit und Tragik, Komödie und Tragödie. So merkwürdig unentschieden „Leviathan“ sich politisch gibt, so konsequent erscheint gerade diese Unentschiedenheit: die Spiegelungen auf der Bühne sind nichts als Zeichen. Hilke Veth

Weitere Vorstellungen: 5./7./9.10. um 19.30 Uhr im Ballhof 2