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„Aggressionen müssen raus“

Dreieinhalb Jahre dauert der Jugendkrieg von Weimar / Man hat sich in den Gräben eingerichtet: Wer nicht rechts ist, nennt sich links  ■ Aus Weimar Annette Rogalla

Sabine Fleissner hat den Eßtisch so gestellt, daß man von allen Plätzen aus einen bequemen Blick auf den Fernsehschirm hat. Über dem Tisch, in Kopfhöhe, sind blasse, verwischte Blutspritzer an der Wand zu sehen. Spuren eines Überfalls.

„Da haben sie meinen Thomas zusammengeschlagen, um halb zwei. Ich hab' nicht gehört, wie die geklingelt haben. Ich hab' nur gehört, wie sie die Tür eingetreten haben. Da bin ich dann rausgerannt und sah den Thomas hier im Zimmer stehen, mit einem Messer in der Hand, vier andere junge Männer standen ihm gegenüber. Die kamen gleich auf mich zu. Die waren vermummt, die jungen Leute. Ich wußte gar nicht, worum es geht. Ich sage, hoffentlich können wir mal ein bissl friedlich zusammen reden. Ich denke bei mir, du bist 'ne Frau, du mußt die Sache diplomatisch regeln. Tu' das Messer weg, sag' ich zum Thomas, und der legt das auch weg. Dann waren die schon am Tisch gesessen. Sie sagen: Ihr Sohn ist eine linke Socke, und wir sind rechts und bleiben rechts, und was wir Rechten vorhaben, das setzen wir auch durch.

Es ging nicht laut zu. Zu Thomas hab ich nur gesagt: Sei stille, daß nicht noch was Schlimmeres passiert. Dann wollten die vier Bier haben. Ich bin in die Küche, da höre ich was schlagen. Als ich wiederkam, hatten sie ihm schon ins Gesicht gehauen, so, daß die Brille weggeflogen ist, der Nicki war zerrissen. Und die saßen, als wäre nichts passiert.

Ich sage, na, ich denke, wir wollten hier ordentlich über 'ne Sache reden, worum es hier geht. Da stehen wieder zwei auf und gehen raus. Ich bin denen hinterher. Dann komm ich ins Eßzimmer zurück, da haben sie wieder auf ihn eingeschlagen. Die Blutspritzer, hier, die gehen nicht mehr ganz weg. Thomas lag in der Ecke, er hatte sich so eingekauert und ich versuche, den einen von ihm wegzureißen, sage: Komm' schon, ist ja gut. Und wie der hochkommt, wischt er dann das Blut an meiner Tischdecke ab und sagt: Kommt. Und weg waren sie.“

Der Jugendkrieg von Weimar dauert mehr als dreieinhalb jahre. Rechts gegen Links, Links gegen Rechts. Im April 1990 zogen zum ersten Mal rechtsgerichtete Jugendliche vor ein besetztes Haus der autonomen Szene. Steine und Molotowcocktails flogen, Weimar erlebte die erste Straßenschlacht in nachsozialistischer Zeit. Die nächste Attacke kostete einem Rechten das Auge. Als Antwort flog bei einem Linken eine Brandflasche durchs Schlafzimmerfenster.

Die von sich behaupten, links zu sein, halten ein Bürgerhaus in der Innenstadt besetzt. „Seid laut und frech und wunderbar“ ruft ein Graffiti den ehrfürchtigen Besuchern von Weimar zu.

Die sogenannten Rechten verschanzen sich in der Oberstadt, dort, wo die betonglatten Wohnhäuser der Arbeiter sich hintereinander im Spalier ducken. Sie haben ihren Jugendklub nach der Adresse genannt: Dichterweg. Am hinteren Teil des Hauses haben sie sich einen Bunker gegraben, aus der Backsteinwand glotzen Schießschächte. Den ganzen Sommer über reisten alte Kameraden aus der gesamten Bundesrepublik an und hielten mit den jungen Wehrsportübungen an der Waffe ab. Vor knapp sieben Wochen, am Ende des Trainingssommers, schloß die Stadtverwaltung den Klub. Eine vorübergehende Maßnahme, solange, bis sich neue Sozialarbeiter gefunden haben.

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Horst Hasselmann, Bürgermeister von der FDP, ist zuständig für die Dezernate Jugend, Bau, Umwelt und Bildung. Bullig, Ende 50 und von der Ostsee kommend, hat er als Bauingenieur in der Stadtverwaltung angefangen. Jetzt ist er ganz oben und stolz darauf, „Manager der öffentlichen Belange“ zu sein.

„Also, wenn Sie mit mir über Pädagogik oder Sozialarbeit diskutieren wollen, sind Sie an der falschen Adresse. ... Wir haben es geschafft, daß seit über zwei Jahre sozialer Friede in der Stadt herrscht. Dieser Zwischenfall, mit dem Thomas, das war ein Ausrutscher. Ich habe der Mutter von Thomas geraten, ihren Sohn dahingehend zu beeinflussen, daß es nicht mehr zu dieser Konfrontation kommen kann. Wenn man sie einfach nicht zur Kenntnis nimmt, dann muß es nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen. Wenn Sie in den Anfangszeiten gesehen haben, was die Rechten und Linken sich für Straßenschlachten geliefert haben, ich sage Ihnen, dann ist das schon ein Erfolg... “

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Eine halbe Stunde nach dem Überfall auf Thomas splitterten die Scheiben ein paar Straßenecken weiter entfernt. In der Wohnung waren Rudolph Keßner, Stadtverordneter der Grünen/ Bündnis 90, seine Frau und die drei Töchter. Zehn Vermummte standen im Flur, lange Stablampen in den Händen haltend, brüllten sie: „Wo ist Stephan, dieses Schwein, das machen wir jetzt fertig.“ Gemeint war der 18jährige Sohn. Auch er zählt seit Jahren zur autonomen Szene der Stadt. Die jungem Männer polterten durch die Zimmer und packten eine Videokamera ein. Stephan war noch in der Diskothek. Die jüngste Tochter erlitt einen Schock, den sie bis heute noch nicht überwunden hat. Am Tag danach saßen Stephan, die Kinderbeauftragte von Weimar und Rudolph Keßner den Jugendlichen in ihrem Klub am Dichterweg gegenüber. Einen von ihnen hat Keßner wiedererkannt: „Und das schlimme an diesem Gespräch ist gewesen, daß er sagte: Wieso regen Sie sich auf, es ist doch nix passiert. Ein anderer, es war wohl ihr Führer, meinte, ja, das war ein schlechter Stil von uns, das wird nicht wieder vorkommen. Das war alles, was sie uns zu sagen hatten.

Und ich bin ja daran beteiligt, daß es diesen Jugendklub am Dichterweg überhaupt gibt. Es fiel uns zwar schwer, aber meine Fraktion hat sich dafür stark gemacht. Ich finde es grundsätzlich falsch, ihn zuzumachen. Das Schlimmste wäre, wenn man nichts mehr in die Arbeit mit Rechtsradikalen investieren würde.“

Nachts werden die Erinnerungen wach. Frau Keßner schläft schlecht, sie fürchtet klappernde Fensterläden. Stephan kommt selten nach Hause, er verbringt die Nächte bei Freunden und Bekannten. „Es hilft nicht, darüber nachzudenken“, sagt Frau Keßner. „Es bringt einen nicht weiter, weil man dann vor lauter Angst überhaupt nur noch schlecht leben kann.“

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Den Raum im Erdgeschoß, wo die Schießluken sind, darf nur betreten, wer zu den zwölf Auserwählten gehört. Das legt die Raumordnung der Jugendlichen vom Dichterweg fest. Unter Punkt elf des fünfseitigen Papiers heißt es: „Im Falle eines Angriffs hat sich jeder im wehrfähigen Alter für die Verteidigung des Hauses bereitzuhalten... 12. Wehrunwürdig ist, wer zur Zeit wegen eines Verstoßes gegen die Raumordnung angeklagt ist und noch nicht verurteilt ist.“ Ein „Gasposten“ achtet darauf, daß genügend Gasmasken im Haus sind. Eine „Bürgerwehr“ existiert auch. „7 Tage in der Woche laufen 2 Mann Streife“ in der näheren Umgebung, im Klubraum müssen parat liegen: „2 * Schlagstöcke, 1 * Handschellen, 1 * Taschenlampe, 1 * Fahne“. Namentlich sind 14 Mitglieder in der Liste der „Bürgerwehr“ aufgeführt. Einer von ihnen, Sven L., wurde bei beiden Überfallen erkannt, gegen ihn läuft eine Strafanzeige. Ein anderer versprach der Familie Keßner, den Schaden wiedergutzumachen, wenn sie die Strafanzeige zurückzögen. Zwei Lieder müssen die Klubmitglieder singen, die Texte sind der „Raumordnung“ beigefügt: Es ist so schön, Soldat zu sein, Rosemarie. Soldaten sind Soldaten mit Worten und Taten. Sie kennen keine Lumperei und sind nur einem Mädel treu. Vallerie, Vallera, Vallera ha ha, Rosemarie.

Zwei Tage vor dem Überfall liefen Thomas und sein Freund Jörg nachmittags am Park entlang als die Rechten „Streß machten“. Daniel V. von der Dichterweg-Bürgerwehr raunte Thomas im Vorbeigehen zu: „'ne verdammt große Schnauze hast du in der letzten Zeit“, und zur Bekräftigung trat Jens P. ihm noch schnell mit den Doc Marten's gegen das Bein. „Da hab ich ihn ein bißchen geschlagen“, klarer Fall von Notwehr, sagt Thomas. Anderntags in der Berufsschule, wurde er von Sven L. aufgefordert, sich bei Jens, dem Boß der Bürgerwehr zu entschuldigen. Andernfalls...

„Also, da stehen zehn Mann dir gegenüber und du gehst aus deiner Gruppe raus, haust einem eins auf's Maul. Dann freuen sich die anderen. Für die bist du der Chef. Du weißt, daß du es kannst. Das Geile an Gewalt ist, aufzufallen zwischen den anderen Jugendlichen.“ Thomas, baumlanger Kerl, zieht am liebsten eine Rapperkappe über die dicken Brillengläser. „Also, mein Stil wär's nicht, einfach in die Wohnung zu gehen. Wenn sie wenigstens vor der Tür gewartet hätten. Aber so haben sie meine Mutter gefährdet und auch die Wohnung beschädigt. Allein deswegen habe ich mich nicht gewehrt.“ – Brauchen sich die beiden Seiten, damit Feindbild, damit action stimmen?

Thomas: „Wenn's die Rechten nicht gäbe, gäb's die Linken nicht.“ Jörg dagegen: „Ach, wenn die Faschos nicht wären, hätten wir 'ne andere Zielgruppe. Und wenn die Linken nicht da wären, würden sich die Rechten auf andere spezialisieren. Dann würden sie alte Omas über'n Haufen fahren oder denen die Bude einrennen. Irgendwie müssen die Aggressionen raus.“ – Und wie lassen sie die Aggressionen ab?

Thomas: „Ich hör' Oi-Musik. Ich hör' auch Rap und Metal. Aber wenn ich schlechte Laune habe, leg ich 'ne Störkraft-Kassette rein, weil ich mich dann über die Texte gut aufregen kann. Da kann ich absolut meine Aggressionen abbauen. Meine Mutter guckt zwar blöd, sagt aber: Wenn's hilft.

Jörg war auch mal bei den „Faschos“, heißt: bei denen, die halt irgendwie „'ne rechte Meinung“ haben. „Wir sind durch die Straße gezogen und haben gebrüllt: Ausländer raus. Wir hatten noch nie einen gesehen, haben's aber geschrien. Erst in meiner neuen Klasse war ein Haufen linker Leute. Da bin ich dann rausgekommen. Neulich war ich in Frankfurt, im Westen. Da ist das ja mit den Ausländern ziemlich kraß. Wenn die da sagen: ,Scheiß Deutsche‘, versteh' ich die nicht. Oder wenn rechte Türken sagen: ,Türkei – unsere Heimat‘, dann versteh' ich das auch nicht. Da sollen die doch unten bleiben, warum machen sie denn dann Terror in Deutschland?“ Und Thomas: „Also, solange sie sich anpassen wie andere Bürger der Bundesrepublik sich verhalten, können sie bleiben und auch Deutsche werden. Aber wenn sie so was sagen, wie: ,Deutsche Frauen sind Huren‘, dann sollen sie da unten bleiben, wenn sie so denken.“

Nein, als Rechte kann man Thomas und Jörg nicht bezeichnen. Sie leben gerne in Weimar. Und da ist es so üblich: Wer nicht rechts ist, nennt sich links. Ihren „Feinden“ droben vom Dichterweg wünschen sie: „Fünfzig Tage im Asylantenheim arbeiten, damit sie sehen, wie's denen geht. Oder die müßten nach Afrika und dort unter deren Bedingungen leben.“

Beide Parteien haben sich eingerichtet in ihren Gräben. Solange sie sich nicht inmitten des Touristenstroms in die Haare kriegen, stören sich die Erwachsenen nicht daran. Statt gemeinsam mit ihnen darüber nachzudenken, wie eine Deeskalation der verfahrenen Situation aussehen könnte, kaufen sie sich die Jugendlichen. Angela Merkel, CDU, Bundesjugendministerin, überweist 90.000 Mark in diesem Jahr für zwei besetzte Häuser der linken Szene. Das Schweigegeld heißt im Amtsdeutsch: Antiaggressionsprogramm. Bei den rechten Jungs am Dichterweg fließen allein 148.900 Mark in die Kriegskasse. Der Kampf kann weitergehen.

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