: Merkt auf die Jahre
Balanceakt zwischen Historiographie und Bibel-Exegese. Versuche über die jüdische Geschichte von Yosef Hayim Yerushalmi ■ Von Mariam Niroumand
Vom mittelalterlichen Ahasver, dem wandernden Juden, über Leopold Bloom bis hin zu Edgar Reitz' Juan – immer wieder begegnet man der Figur des jüdischen Exilierten, der nicht nur jenseits einer Heimat, sondern auch merkwürdig jenseits der Geschichte lebt. Dieser Geschichtslose ist nicht nur ein antisemitisches Klischee, er provoziert auch eine die raison d'être betreffende Frage: Haben nicht die Juden gerade deshalb Vertreibung und Zerstörung überlebt, weil sie durch einen uralten Text, ein ehernes Gesetz, jahrtausendealte Rituale verbunden sind, die unter allen Umständen, in allen Ländern die gleichen blieben, zeitlos, a- part? Haben Derrida und Jabès recht, den ewig Wandernden, den Juden als „das Andere“ schlechthin zu verstehen und sein Exil mit der Differenz und den Bedingungen des Schreibens im allgemeinen in eins zu setzen?
Yosef Hayim Yerushalmi will dankenswerterweise nicht ganz so hoch hinaus. Als Schüler des ersten amerikanischen Lehrstuhlinhabers für Judaistik (Jewish Studies), Salo W. Baron, denkt er immer zugleich über die Bedeutung des Erinnerns in der jüdischen Geschichte und über die Rolle des jüdischen Historikers selbst nach.
Sein erstes Buch zum Thema, „Zachor: Erinnere Dich!“, ist längst ein Standardwerk über die Frage, ob es eine spezifisch jüdische Form des Umgangs mit vergangenen Katastrophen gibt. Das Buch ist so schillernd, daß es zum Beleg völlig gegensätzlicher Thesen bemüht werden kann. Unbestritten ist aber allenthalben, daß Yerushalmi die Frage bejaht: Es gibt einen spezifisch jüdischen Typus der Erinnerung, und zwar deshalb, weil die Erinnerung für die jüdische Religion konstitutiv ist. Während die Griechen Geschichte explorierten, um moralisch instruktive Beispiele oder politische Einsichten zu gewinnen, wurde der bloße Fortgang der Geschichte für die Juden zum Gottesbeweis: Gott erscheint durch seine Intervention in der Geschichte, und das Volk Israel reagiert. „Gedenke, was Amalek dir getan“, „Gedenke der Urzeit der Tage“, „Merkt auf die Jahre Reih' um Reih'“, und unaufhörlich: „Gedenke, daß du ein Sklave warst in Ägypten“. Die biblischen Aufforderungen, sich zu erinnern, die sich – auf unterschiedliche Ereignisse bezogen – in wöchentlichen oder jährlichen Ritualen wiederholen, bestätigen immer wieder den Bund zwischen Gott und seinem Volk, der den Lauf der Geschichte vorantreibt. Das Vergessen ist eine Todsünde, und das Exil ist die Strafe.
Yerushalmi stellt fest, daß es bei dieser Form der Geschichtsschreibung nicht um die akkurate Nachzeichnung der Ereignisse ging, sondern um Sinngebung, und daß die Historiographie eine „Erfindung“ der Assimilation im 19. Jahrhundert war. Yerushalmis großes Projekt besteht nun darin, mit diesem Problem zu hadern: Einerseits ist er ein Nachfahre der assimilierten ersten deutschen Historiker, die durch ihre Geschichtsschreibung beweisen wollten, daß die Juden ein Kulturvolk waren wie andere auch, leicht und mit Gewinn integrierbar. Andererseits sieht er die Notwendigkeit einer kollektiven, ritualisierten Erinnerung, gerade in bezug auf die Katastrophen.
Je katastrophaler ein Ereignis, desto verzweifelter waren die Versuche der Schriftgelehrten, ein sinnvolles Pattern zu finden, das es ermöglichen würde, an dem Zusammenhang zwischen Katastrophe und Erlösung festzuhalten, den die Exegese in der Bibel entdeckt hat: Auf die Sintflut war die Arche gefolgt, auf die Sklaverei in Ägypten der Exodus ins Gelobte Land, auf die Zerstörung des Ersten Tempels die Errichtung des Zweiten, und so fort.
Der moderne jüdische Historiker, so sagt Yerushalmi in einem traurigen Fazit, liegt sozusagen von vornherein quer zu diesem Modus vivendi. Wenn er seinen Lehrstuhl an der Columbia University behalten will, kann er keine „interne“, spirituelle Geschichte der Juden schreiben, wie Gershom Scholem es wutschnaubend von seinen deutschen Zeitgenossen von der Firma „Wissenschaft des Judentums“ forderte. Für Yerushalmi gibt es keine sinnstiftende Verbindung zwischen der Zerstörung des Zweiten Tempels und dem Holocaust, wie sie von Orthodoxen gezogen wird, und die Gründung des Staates Israel ist für ihn keine Errettung aus der Katastrophe der Judenvernichtung, wie zionistische Gedenkstätten glauben machen wollen. „Geschichte ist der Glaube gefallener Juden“, schloß er und ließ wenig Aussicht darauf, daß sich sein Wunsch nach einer Zuarbeit der Historiker zur kollektiven jüdischen Erinnerung (und nicht umgekehrt) tatsächlich realisieren ließe.
In dem jetzt bei Wagenbach publizierten Band „Ein Feld in Anathoth: Versuche über jüdische Geschichte“ klingt die Sache schon ein bißchen anders. Offenbar hat er sich die Vorwürfe, er lehne die Geschichtsschreibung ab oder sehne sich nach prämodernen Erkenntnisweisen, sehr zu Herzen genommen. In seinem Vortrag über den „Nutzen des Vergessens“ kommt Yerushalmi zu dem Schluß, daß vor der Amnesie einerseits und dem „verzehrenden Fieber“ (Nietzsche) nach immer mehr Geschichte andererseits nur das kollektive Sinngerüst, das Gesetz, die halacha, schützt:
„Ich bleibe dabei: die Geschichtsschreibung kann kein Ersatz für das kollektive Gedächtnis sein und es gibt auch keine Indizien dafür, daß sie eine alternative Tradition schafft, die zum Gemeingut werden könnte... Im Bewußtsein dessen, daß es heute keine allgemeinverbindliche halacha mehr gibt, die uns die Grenze zwischen zuviel und zuwenig historischer Forschung zu ziehen erlaubt, daß ich mich aber doch entscheiden muß, trete ich ein für ,zuviel‘.“
Weil das Vorwort sehr kurz und im Ton des für Yerushalmi typischen Understatements gehalten ist, wird oft nicht deutlich, an welche Kontroversen seine höflich vorgetragenen Thesen rühren. Im Kapitel „Exil und Vertreibung in der jüdischen Geschichte“ demonstriert er, was so manchen Zionisten verärgern dürfte: daß nämlich das Exil schon vor der Landnahme zur jüdischen Identität gehörte. „Auch unter jenen Stämmen wirst du nicht rasten“, steht im Fünften Buch Mose, „dein Leben erscheint in der Schwebe dir gegenüber, aufschrickst du bei Nacht und bei Tag, du traust deinem Leben nicht, am Morgen sprichst du: Wer gäbs, daß Abend wär! Am Abend sprichst du: Wer gäbs, daß Morgen wär! Vorm Schreck deines Herzens, den du erschrickst, vor der Sicht deiner Augen, die du siehst.“
Yerushalmi wäre nicht Salo Barons Schüler, wenn ihm die „weinerliche“ Variante jüdischer Geschichtsschreibung, nach der alles Leben nach der Vertreibung aus dem Paradies ein Jammertal gewesen ist, nicht zutiefst unsympathisch wäre. Warum, so fragt Yerushalmi, blieben die meisten Juden nach der Eroberung durch Kyros von Persien in Babylon, obwohl der den Deportierten erlaubt hatte, nach Israel zurückzugehen? Weil sie, wie Jeremia es ihnen empfohlen hatte, Häuser gebaut, Gärten gepflanzt, Weiber genommen und Nachkommen gezeugt hatten. Warum haben die holländischen Juden Amsterdam ihr Jerusalem genannt, warum war Vilna das Jerusalem Litauens? Warum war Osteuropa vor den Pogromen das Zion der aus Westeuropa Vertriebenen? Weil sich dort Verflechtungen mit der Umgebungskultur ergeben hatten, aus denen irgendwann ein Zuhause wird.
Verabschiedung des Engels der Geschichte
Wieder geht es um den Zwiespalt zwischen Historiographie und Historiosophie: Wer an der Deutung der jüdischen Geschichte als ein Tal der Tränen, des unerlösten Exils als ewige Strafe festhält, katapultiert ein ganzes Volk aus der Handlungsfähigkeit in der Diaspora, aus der Hinwendung zum Hier und Jetzt, in den Bereich des Zeitlosen, Jenseitigen. Yerushalmi verabschiedet hier auch Walter Benjamins Engel der Geschichte, der sich der Vergangenheit zuwendet und nur Trümmer über Trümmern sieht, die er nicht wegschaffen kann, weil der Wind des Fortschritts ihn unaufhaltsam in die Zukunft treibt.
Die fünf Vorträge sind höchst brillant miteinander verbunden. Der Verlag war so frei, sie nicht chronologisch, sondern nach inhaltlichen Gesichtspunkten aneinanderzufügen, denn was mit dem Erinnerungsgebot begann und zum Exil führte, kommt schließlich bei dem Zusammenhang zwischen Assimilation und Antisemitismus an. Yerushalmi versucht, das alte Trennungsschema vom heidnisch- antiken, christlich-mittelalterlichen zum säkular-neuzeitlichen Antisemitismus aufzulösen. Die Assimilation, die er gerade noch als eine Errungenschaft des jüdischen Exils charakterisiert hatte, führt nun in den Antisemitismus. Während der neuzeitliche Antisemitismus sich aus dem Rassismus des 19. Jahrhunderts speist und mit dem mittelalterlichen höchstens noch durch den christlichen contemptus mundi zusammenhängt, war dem mittelalterlichen Judenhaß noch der getaufte Jude dem Christen ebenbürtig.
Am Beispiel der Konvertiten im spätmittelalterlichen Spanien zeigt Yerushalmi aber, wie die conversos zunächst unbehelligt wichtige Wirtschafts- und Verwaltunsfunktionen übernahmen, Ärzte, Adlige und Stadträte wurden. Dann regten sich in den Städten erste Ressentiments. Durch die Konversion konnte man die Juden nicht besser in Schach halten, sie waren jetzt sogar viel bedrohlicher – nicht mehr isolierbar. Von da an war es kein großer Schritt zu den Blutreinheitsgesetzen, die die Bruchrechnungen der Nürnberger Gesetze noch weit übertrafen: Wer auch nur zu einem 126tel jüdisch war und selbst schon nichts mehr davon wußte, konnte kein Offizier oder Stadtbeamter mehr werden. So hebt Yerushalmi die Behauptung vieler Christen, ihre Religion lasse sich mit einem Rassebegriff nicht vereinbaren, aus den Angeln.
Etwas ratlos entläßt Yerushalmi seine Leser mit einem Vortrag über die jüdische Hoffnung, die er als historisches Phänomen behandelt wissen will; eine Forderung, die er dann selber nicht ganz einlöst. Die Formel, die er statt dessen findet, ist von Benjamins Engel nur noch einen Flügelschlag entfernt: „Die Religion der Bibel gab den Juden ein schwer definierbares Geschichtsbild – weder Mythos im heidnischen Sinn, denn das hatte man hinter sich gelassen“, noch Geschichte im griechischen, politischen Sinn, noch in unserem, linearen Sinn. „Wenn der sichtbare Text der Geschichte mit dem unsichtbaren Subtext [die Ewigkeit von Bund und Gesetz, das Versprechen der Rettung aus der Katastrophe, Anm. d. A.] im Widerspruch stand, galt im Judentum letzterer als entscheidend.“ Erst mit der Ankunft des Messias wird aus den beiden Texten einer.
Yosef Hayim Yerushalmi: „Ein Feld in Anathoth: Versuche über jüdische Geschichte“. Aus dem Englischen von Wolfgang Heuss und Bruni Röhm. Wagenbach Verlag, 96 Seiten, 27 DM
„Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis“. Wagenbach Verlag (1988), 144 Seiten, 19,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen