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Anerkennungs-Politik

Mehrheit für die Minderheiten? Die multikulturelle Gesellschaft ist mehr als buntes Nebeneinander, meinen Charles Taylor und Jürgen Habermas  ■ Von Reiner Ansén

Aus allen Teilen der Welt fliehen Menschen vor allen möglichen Bedrohungen ihrer Existenz in die Sicherheit der westlichen Demokratien, in denen ihnen, wenn sie aufgenommen werden, nicht nur ihr physisches Überleben garantiert wird, sondern auch ein Minimum an kultureller Identität. In allen westlichen Demokratien ist die Immigration längst ein Faktum. Die Einwanderungsbewegung und die Forderungen anderer minoritärer Lebensformen nach Anerkennung zwingen die demokratischen Länder des Westens, der wachsenden Irritation durch eine Neubestimmung ihres kulturellen und politischen Selbstverständnisses zu begegnen. Dieses neue Selbstverständnis ist in den westlichen Gesellschaften noch nicht Realität, aber es hat zumindest schon seinen Begriff gefunden: Multikulturalimus.

Problem und Programm des Multikulturalismus muß man vor einem doppelten Hintergrund betrachten. Unser Selbstverständnis ist immer noch und verstärkt wieder in den letzten Jahren das des modernen Nationalstaates. An dessen Ursprung stand die Notwendigkeit, die politische Souveränität neu zu legitimieren. Die Legitimationsgrundlage seiner politischen Souveränität setzte der moderne Nationalstaat ins „Volk“, das von Abstammung, Sprache und Kultur her als homogen betrachtet oder homogen gemacht wurde. Ethnische Homogenität bekam damit eine begründende und normative Bedeutung, die sie im vormodernen Staat nicht besessen hatte. Sie legitimierte nicht nur die politische Souveränität der modernen Nationalstaaten, sondern bot der Gesellschaft und jedem Einzelnen auch einen Kern stabiler Identität.

Irritationen des gesellschaftlichen und individuellen Selbstverständnisses können nicht ausbleiben, wenn diese Homogenität sich aufzulösen oder entscheidend zu ändern beginnt. Genau das geschieht in der gegenwärtigen Umbruchphase, in der immer mehr Gesellschaften faktisch zu multikulturellen werden. Zunehmend machen sich im Rahmen der Mehrheitskultur Teilkulturen geltend, die ihren Angehörigen andere Identitäten mitgeben oder ermöglichen. Mit diesem epochalen Umbruch hat es die Debatte um den Multikulturalismus zu tun.

Man muß noch einen zweiten Hintergrund im Auge haben, um auch die politische Bedeutung der veränderten Realität und des notwendigen Wandels unseres Selbstverständnisses zu erkennen. Sie wird sofort einsichtig, wenn man die Alternative zum Multikulturalismus betrachtet, die gegenwärtig mit noch schwer abschätzbarem Erfolg propagiert wird. Auf die Irritation, die mit der Auflösung der alten Homogenität verbunden ist, kann man nämlich auch mit einem Programm ihrer Wiederherstellung reagieren. Am bündigsten kommt dieses neonationalistische Programm im sogenannten Ethnopluralismus der Neuen Rechten zum Ausdruck, die mit dem Recht auf Differenz in Wahrheit Recht auf Identität und mit Pluralismus Segregation meint, eine Art nationale oder europäische Apartheid.

Nun ist das Recht auf Identität unbestreitbar. Auch im Multikulturalismus geht es letztlich um dieses Recht. Aber muß man die faktische und zunehmende Inhomogenität der westlichen Gesellschaften als Identitätsverlust verstehen, um dann die Restauration einer „verlorenen“ oder „bedrohten“ Identität zum Programm zu machen, die politisch nur regressiv sein kann? Es wäre realistischer und auch politisch zivilisierter, darin einen Wandel der Identität zu sehen. So ließe sich der Multikulturalismus angemessener beschreiben und in die nötige Neudefinition unseres Selbstverständnisses einbringen. Ebendies versuchen die Autoren des vorliegenden Bandes.

Eine Gesellschaft, in der verschiedene kulturelle Identitäten oder Lebensformen im Rahmen einer Mehrheitskultur nebeneinander bestehen, ist noch keine multikulturelle Gesellschaft. Dazu ist notwendig, daß die verschiedenen minoritären Identitäten anerkannt werden. „Politik der Anerkennung“, so Taylors Grundgedanke, ist Voraussetzung und zugleich Umsetzung des Multikulturalismus als Zukunftsperspektive demokratischer Gesellschaften.

Identität setzt Anerkennung durch „signifikante Andere“ voraus. Taylor skizziert die widersprüchliche Geschichte dieses Gedankens seit Rousseau und sucht eine Politik der Anerkennung für unsere Gegenwart zu entwerfen. Da in einer Demokratie die Anerkennung gleichheitlich sein muß, stellt sich für Taylor das Problem auf zwei Ebenen: auf der Ebene der wertmäßigen Gleichheit der kulturellen Identitäten und auf der ihrer rechtlich-politischen Gleichheit. Voraussetzung der rechtlich- politischen Anerkennung anderer kultureller Identitäten ist die Annahme ihrer Gleichwertigkeit und eine „Horizontverschmelzung“ zwischen unserer und uns akzeptablen anderen Kulturen. Dieses Programm wird von Habermas als paternalistisch zurückgewiesen, ebenso wie die Problemstellung, was die rechtliche Gleichheit angeht. Taylor sieht hier einen Widerspruch zwischen der Anerkennung universeller Rechte und der Anerkennung besonderer Identitäten. Der Universalismus der Rechte, der dem streng liberalistischen Prinzip der Nicht-Diskriminierung folgt, ist blind für Differenzen; die Anerkennung besonderer Identitäten aber bringt die Möglichkeit einer „umgekehrten Diskriminierung“ durch Kollektive, die solche Rechte einfordern, auf die Tagesordnung – und damit die Verletzung jenes Neutralitätsprinzips, das der Universalismus gerade fordert. Taylor votiert ohne weitere Begründung für ein Modell, in dem unter Voraussetzung der Grundrechtegarantie von Fall zu Fall zwischen Gleichbehandlung und positiven Überlebensgarantien für kulturelle Minoritäten entschieden wird.

Wo Taylor eine erhellende historische Perspektive eröffnet und die entscheidenden Fragen für Gesellschaften stellt, die vor der Anerkennung ihrer faktischen Multikulturalität stehen, da liefert Habermas zunächst einmal präzise und überzeugende Begründungen, die eher auf den europäischen und besonders deutschen Kontext zugeschnitten sind.

Habermas zufolge ist das Problem der Multikulturalität weder die Bewertung verschiedener kollektiver Identitäten noch der mögliche Widerspruch zwischen Individual- und Kollektivrechten. Bewertung ist nicht nur als paternalistisches Konzept zu verwerfen, sondern bei Garantie der Grundrechte auch unnötig. Und einen Widerspruch zwischen gleichen Ansprüchen und Individuen und divergierenden Ansprüchen von Kollektiven vermag er nicht festzustellen, weil Rechtsansprüche ohnehin nur von Individuen geltend gemacht werden können.

Darüber hinaus wird auch in der individualistischen Theorie und Praxis der Rechte das Individuum nicht als qualitätsloses Atom verstanden, sondern mit Rücksicht auf prägende kollektive Erfahrungszusammenhänge behandelt und mitsamt seinen identitätsbildenden Lebenszusammenhängen geschützt.

Habermas sucht den Multikulturalismus in eine allgemeine, auf staatsbürgerlicher Partizipation gründende Theorie der Demokratie zu integrieren. Da der Prozeß der Rechtsverwirklichung immer auch ein Selbstentwurf der Gesellschaft ist und da dieser Prozeß letztlich vom Kollektiv der Staatsbürger getragen wird, müssen sich kulturelle Minoritäten im politischen Diskurs an diesem Selbstentwurf beteiligen. Ihr Beitrag zur Debatte wird dann auch das Selbstverständnis der Mehrheitskultur verändern. Ändert sich die Grundgesamtheit der Bürger, werden auch gesellschaftlich andere Diskurse mit anderen Ergebnissen geführt. Vorausgesetzt ist dabei, daß den Minoritäten das volle Staatsbürgerrecht zuerkannt wird, was in Deutschland die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung bedeutet. Das nationale Selbstverständnis, so Habermas, ist nicht länger ethnisch, sondern staatsbürgerlich begründet.

Dagegen läßt sich eine Menge einwenden. Das Staatsbürgerrecht ist, wie man an anderen Ländern leicht sehen kann, nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für das Funktionieren einer multikulturellen Gesellschaft. Daß zunehmend sogar staatsbürgerlich anerkannte kulturelle Identitäten oder Lebensformen in Bedrängnis geraten, weist auf ein tieferliegendes Problem hin. Es ist nicht nur die Anfälligkeit gesellschaftlicher Diskurse für Irrationalismen und Regressionen, die Habermas weiterhin auch in ihrer theoretischen Relevanz unterschätzt. Es ist auch die Macht der nicht diskursiv ausgehandelten Bilder, die eine Gesellschaft von sich selber und von den anderen ständig entwirft. Hier ist Taylors Text etwas ergiebiger und viel realistischer als der von Habermas. Eine Politik der Bilder, die der der Anerkennung zur Seite zu stellen wäre, formuliert allerdings auch er nicht.

Charles Taylor: „Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung“. Mit Kommentaren von Amy Gutmann (Hg.), Steven C. Rockefeller, Michael Walzer, Susan Wolf. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas. S. Fischer Verlag, 192 Seiten, 34 DM

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