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Schundkampf-Riten

Beim Volkskunde-Kongreß zum Thema „Gewalt in der Kultur“ triumphierte die kleine Ethnographie über die große Theorie, die Entdeckerfreude über das Selbstdarstellungs-Gespreize  ■ Von Rebekka Habermas

Durch Pierre Bourdieu wissen wir von der Bedeutung bestimmter akademischer Rituale: Welcher fachwissenschaftlichen Ausrichtung auch immer sie sein mögen — Historikertag, Philosophenkongreß oder Romanistentag dienen allesamt in erster Linie dem Zwecke der Selbstvergewisserung nach innen und der Selbstdarstellung nach außen; ihre Vorträge geben Auskunft über die Allmacht des Beharrungsvermögens und über die Angst vor Innovationen; die Pausen werden zur Stellenvermittlung und Neuordnung beziehungsweise Bestätigung sozialer Rangordnungen und die Nachtstunden zu Männerbündelei und Kriegsspielen um Lehrstuhlvergaben genutzt. Können auf diesen Tagungen auch die wesentlichen Bedürfnisse der Zunft und ihrer Mitglieder – meist schlecht gekleidete, vorwiegend männliche Gestalten um die 50, ausgestattet mit der Gabe zum Hochdeutschen und von mittelgroßem, unauffälligem Körperwuchs – befriedigt werden, so ist ihnen doch das deutliche Desinteresse der breiten Öffentlichkeit ein Dorn im Auge; es nagt so sehr am Selbstbewußtsein insbesondere jener Disziplinen, deren ureigenstes Forschungsobjekt die Öffentlichkeit – oder vollmundiger ausgedrückt: die Gesellschaft – ist, daß auch das traditionelle landesväterliche Grußwort nur unzureichenden Trost zu spenden vermag.

Der 29. Deutsche Volkskunde- Kongreß, der vom 27.September bis zum 1.Oktober in Passau stattfand, widerlegte diese Einschätzung akademischer Tagungsrituale aufs erfreulichste. Selbstvergewisserungsversuche erstickten schon im Keime, ist doch die Identität dieser Disziplin so vielfältig wie die Namen, unter denen sie firmiert: heißt sie in Tübingen Empirische Kulturwissenschaften, so wird an der Humboldt-Universität Europäische Ethnologie und in Frankfurt/Main Kulturanthropologie gelehrt, während man sich in Münster Volkskundler nennt. Auf eine Selbstdarstellung nach außen wartete man nicht nur mangels Grußworten, sondern vor allem aufgrund einer für die akademische Welt befremdlichen Bescheidenheit vergeblich. Das Tagungsthema „Gewalt in der Kultur“ verrät eine im Unterschied zu weitaus größeren Gesellschaftswissenschaften wie Soziologie und Politikwissenschaft überraschenden Aktualitätsbezug, und die Vorträge zeichneten sich durch Entdeckerfreude und Neugierde statt durch die übliche Territorialverteidigung und die Angst der Sozialwissenschaftler vor der Vielfalt der sozialen Welt aus. Die Volkskunde ist heute eine der innovativsten Sozialwissenschaften hierzulande. Statt sich mit der Befestigung der akademischen Grenzzäune zu beschäftigen, hat man sich – allen voran am Tübinger Institut für Empirische Kulturwissenschaften und mittlerweile auch am Fachbereich für Europäische Ethnologie der Berliner Humboldt-Universität – in der Welt der Kulturwissenschaften umgeschaut: Aus der angelsächsischen Kultur- und Sozialanthropologie, der Europäischen Ethnologie französischer Provenienz, der Mentalitätsgeschichte, der historischen Anthropologie und den älteren deutschen Volkskundetraditionen schöpfen die innovativsten VertreterInnen des Fachs heute ihre analytische Kreativität.

Welche Vielgestaltigkeit diese Kreativität annehmen kann, machte die Bandbreite der in Passau unter dem Thema „Gewalt in der Kultur“ versammelten Beiträge deutlich, die die Gewalt gegen Ausländer und gegen Frauen, die Gewalt in den Medien und im Sport, die Gewalt in Jugendkulturen und zwischen Ethnien ebenso wie die „stille“ Gewalt im Alltag und die mörderische Gewalt des Krieges behandeln. Insbesondere die Vorträge, die den unterschiedlichen Dimensionen sozialer Phänomene – von der Innensicht der AkteurInnen über die symbolische Bedeutung von Handlungen bis zur Kraft von Diskursen – Rechnung trugen und damit die oft allzu engen Grenzen der Nachbardisziplinen überschritten, zeigten, was von VolkskundlerInnen gelernt werden kann.

Der Vortrag der Göttinger Volkskundlerin Carola Lipp warf neues Licht auf die ausländerfeindlichen Proteste der letzten Jahre; diese werden vor den Hintergrund älterer Protesttraditionen einerseits und in einen Zusammenhang mit den Gegenprotesten der Lichterketten andererseits gestellt: Die fast ausschließlich männlichen Akteure ausländerfeindlicher Proteste stammen aus den mittleren und unteren Schichten der Kleinstädte, haben einen sogenannten Normallebenslauf und teilen die rigiden Leistungs- und Moralvorstellungen ihrer Schicht. Die an solchen Aktionen beteiligten jungen Männer haben in der Regel kein klar konturiertes rassistisches Weltbild, vielmehr fühlen sie sich diffus bedroht und verstehen sich als diejenigen, die stellvertretend für viele ein vermeintlich durch AusländerInnen und AsylbewerberInnen außer Kraft gesetztes „gerechtes“ Arbeits-Leistungs-Verhältnis wieder ins Recht setzen. Dieses Selbstverständnis – und damit stehen sie in einer jahrhundertealten Protesttradition der Unterschichten – als Ordnungs- und Regulationskräfte wird durch die Beifall zollenden Bystanders, durch die „Erfolge“ ausländerfeindlicher Aktionen – etwa die Verlegung von Asylbewerberheimen in andere Regionen – und durch das Medienecho bestärkt.

Trägerschicht, Selbstverständnis und Handlungsformen der Gegenproteste aber sprechen eine andere Sprache. Das sich im stummen Protest der Lichterketten formierende Bürgertum wandte sich mit dieser Protestform des Totengedenkens und der Sühne einerseits an die in Deutschland lebenden AusländerInnen, andererseits diente diese Protestbewegung der Selbstvergewisserung als „bessere Deutsche“. Diese – um mit Bourdieu zu sprechen – „ostentative Verausgabung guten Willens, reinen und uneigennützigen Handelns“ ist freilich eine typische Politikform jenes Teils der Bevölkerung, der Zugang zur Kultur der Medien hat und in Sachen Moral überlegen ist. So paradox es klingen mag, letztlich offenbaren diese beiden Protestformen eine tiefe soziale Kluft der Bundesrepublik, die durch nationale Metaphorik eher verdeckt wird. Daß die Lichterketten überdies aufgrund dieser unterschiedlichen Politikstile an ihrer Zielgruppe, den ausländerfeindlichen Gruppierungen, vorbeigeht oder schlicht mißverstanden werden, liegt auf der Hand.

Die Beiträge von Joachim Kaps und Kaspar Maase zu Gewaltdarstellungen in den Medien verließen die ausgetretenen Pfade herkömmlicher Interpretationen. Maase entlarvte die von derJugendministerin bis zum bayerischen Verband der Landfrauen mit gleichem Entsetzen vorgebrachte Medienkritik als moderne Form des Rituals, das in ähnlicher Form in den Jahren 1910, 1925 und 1950 zu beobachten war und nun wiederum kurz nach den Vorfällen in Rostock in Szene gesetzt wurde. Die schockierenden Meldungen über endlose Gewaltszenarien auf bundesrepublikanischen Bildschirmen sind insofern „Schundkampf-Riten“, als sie letztlich nicht auf eine materielle Veränderung der Situation abzielen, sondern einer gesellchaftlichen Selbstverständigung darüber dienen, daß wir an den Vorrang von Menschlichkeit und Vernunft vor Gewalt und Profit glauben. In diesem Sinne handelt es sich auch um einen Beschwörungsritus: Humanität und Vernunft werden angerufen und eine kollektive Solidarität überdies, während andernorts der Sozialstaat abgebaut wird. Und doch, Rituale sind stets mehrdeutig, und der „Schundkampf-Ritus“ trägt andererseits auch dazu bei, die Hoffnung auf weniger Gewalt wachzuhalten.

Auch die Gewaltdarstellungen in Jugendgruppen entpuppen sich bei näherem Hinsehen – wie Bettina Roccor in ihrer Analyse von Heavy-Metal-Gruppen zeigt – als überaus vielschichtig. Während Politiker und Kulturfunktionäre die gewalttätigen Bühneninszenierungen dieser Gruppen zum Anlaß nehmen, nach Zensur und Auftrittsverboten zu rufen, verstehen die Musiker und ihre Fans Texte und Bilder als Kritik, die eben dadurch provoziert und schockiert, daß sie den Konventionen bürgerlicher Formen nicht gehorcht. Thematisieren die in der Regel aus unteren Schichten stammenden Musiker hier ihre Gefühle, den Trotz und die Verweigerung der Pubertät, so speist sich die Kulturkritik an ihnen auch aus einer Angst vor diesem sozial schlechter gestellten Publikum. Ähnlich argumentierte Ronald Lutz in seinem Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung jugendlicher Gewalt in den Städten und gegen die vorschnelle Gleichsetzung von jugendlicher Gewalt und Rechtsextremismus.

Auch die von Christel Köhle- Hazinger geleitete Sektion über sexistische Formen von Gewalt zeigte, wie wenig mit den allenthalben so beliebten Kurzschlußformeln gewonnen ist: Auch Gewalt gegen Frauen erklärt sich nur, wenn neben sozialen Hintergründen der symbolischen Bedeutung, ihrer kulturellen Verortung und der Eigengesetzlichkeit der Diskurse über sie – wie unter anderem Michi Knecht am Beispiel der Abtreibungsdiskussionen zeigt – Rechnung getragen wird.

Und doch, manchmal wünschte man dieser Disziplin mit ihrer genuinen Stärke, der eigenwilligen Vorliebe für die kleine Ethnographie, eine Prise weniger Scheu vor vermeintlich großer Theorie. Zu Recht wies Rolf Lindner nachdrücklich darauf hin, daß insbesondere Analysen zu aktuellen Gewaltformen einer präziseren theoretischen Standortbestimmung bedürfen, daß gerade eine kulturwissenschaftliche Disziplin hellhörig werden sollte, wenn sich biologistische Denkfiguren aus dem Reich der Ethnologie à la Irenäus E.-E. einschleichen. Davor aber schützt vielleicht gerade die kleine Ethnographie, die zu einem genaueren Hinschauen und zu einer feinfühligeren Analyse gerade dadurch nötigt, daß sie die Widersprüchlichkeit sozialer Phänomene ernst nimmt. Und vielleicht ist es gerade diese Ernsthaftigkeit, mit der VolkskundlerInnen ihrem Forschungsobjekt „Volk“ zuhören, die sie auch vor den allzu selbstgewissen Inszenierungen akademischer Rituale bewahrt.

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