Unterirdische Vers(e)uchung

China hat gestern auf seinem Testgelände Lop Nor in der nordwestlichen Provinz Xinjiang den weltweit ersten Atomtest seit einem Jahr unternommen und damit alle Bemühungen um einen umfassenden Stopp aller Versuche unterlaufen.

„Wenn dieses Moratorium von einer anderen Nation gebrochen wird“, sagte US-Präsident Bill Clinton im Sommer diesen Jahres, „dann werde ich das Energie-Ministerium anweisen, zusätzliche Tests vorzubereiten und gleichzeitig den Kongreß um seine Zustimmung bitten.“ Seitdem US-amerikanische Beobachtungssatelliten festgestellt hatten, daß China offenbar einen Atomversuch auf seinem Testgelände in der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang (Sinkiang) vorbereitete, hatte es an Bitten und Warnungen an die Adresse Pekings nicht gefehlt. Ohne Erfolg: Gestern bestätigte die amtliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua einen Bericht des Londoner Instituts „Verification Information Technology Center“ (VERTIC), nach dem China in der Nacht zum Dienstag eine unterirdische Sprengung durchgeführt hat. Dies ist nach westlichen Zählungen der 39. Atomtests der Chinesen seit 1964, als das Entwicklungsland zum Erstaunen und zur Bestürzung der Welt seinen ersten Atomsprengsatz zündete. 1980 führten sie zum letzten Mal einen überirdischen Test durch.

Wie VERTIC am Dienstag mitteilte, wurden die Erschütterungen der Explosion von 71 Erdbebenmeßstationen aufgezeichnet. Sie erreichten Stärken bis 5,5 auf der Richter-Skala.

Das Weiße Haus in Washington ließ verlauten, die USA bedauerten den Test und bereiteten sich auf eine mögliche Wiederaufnahme der eigenen Atomversuche vor. Zugleich forderten sie Peking auf, keine weiteren Versuche vorzunehmen und sich mit den anderen Atommächten einem Moratorium anzuschließen. Auch das japanische Außenministerium fand den chinesischen Test „sehr bedauerlich“.

Die chinesische Führung, die zum ersten Mal einen Atomtest bestätigte, erklärte sich gestern bereit, mit den anderen nuklearen Mächten über den Abschluß eines Atomteststoppvertrages „nicht später als 1996“ zu verhandeln. Sie verknüpfte ein solches Abkommen aber mit der Forderung nach Vernichtung aller Atomwaffen weltweit. „China befürwortet seit langem ein völliges Verbot und die umfassende Zerstörung von Atomwaffen und in diesem Zusammenhang einen weitgehenden Atomteststopp.“

Schon seit Jahren betont Peking, daß es unter den Atommächten zu den zurückhaltenden gehöre. Und tatsächlich haben nach Angaben unabhängiger Beobachter die Vereinigten Staaten mehr als 900 mal einen Atomsprengsatz zu Testzwecken gezündet. Die andere Großmacht Sowjetunion testete mindestens 715 mal. An dritter Stelle steht Frankreich mit 192 Tests, vor Großbritannien (44) und Indien (1).

Das chinesische Atomtestgelände beim heute ausgetrockneten See Lop Nor liegt tief im Westen Chinas, rund 2.300 Kilometer von Peking entfernt. In der Nähe verlief einst die Seidenstraße, die China mit dem Westen verband. Heute gehört diese Region zu den unzugänglichsten der Welt, und nur spärlich dringen Berichte darüber nach außen. US-amerikanische und andere Beobachtungssatelliten observieren die dortigen Aktivitäten.

In den vergangenen Jahren hat es Berichten zufolge in der Provinz Xinjiang, die überwiegend von ethnischen Minderheiten wie Uiguren, aber auch Kasachen und anderen Völkern bewohnt wird, mehrfach Proteste gegen die atomare Verseuchung der Region gegeben. Doch die chinesischen Behörden reagieren mit aller Härte gegen solche Proteste.

So kommen denn eher Berichte über die Folgen der atomaren Verseuchung der Region aus dem Ausland: aus dem benachbarten Kasachstan oder weiter entfernten Gegenden, sogar den USA. Nach Berichten der Umweltorganisation Greenpeace gelangte im September 1976, nach einem überirdischen Test in Lop Nor, eine radioaktive Wolke über den Pazifik bis nach Nordamerika. Eine Woche später sei der Fallout in wolkenbruchartigen Regenfällen an der Ostküste der USA niedergegangen – mehr als 10.000 Kilometer vom Ort der Explosion entfernt. Die Meßwerte waren derart erhöht, heißt es in dem Greenpeace- Bericht, daß die Betreiber des Atomkraftwerks Peach Bottom bei Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania ein Leck in ihrer Anlage vermuteten.

Was die chinesischen Tests im Westen des eigenen Landes anrichteten, läßt sich bis heute nur vermuten. Berichte über Schwächungen des Immunsystems bei chinesischen Erwachsenen und erhöhte Kindersterblichkeit sowie Radioaktivität im Boden, in Pflanzen, im Wasser und sogar in Lebensmitteln dringen immer noch nur spärlich aus dem Land. Jutta Lietsch