: Ort der Sammler und Voyeure
■ Allmonatlich versteigert die Reichsbahn Fundsachen / Die Auktionshalle am Hackeschen Markt ist das Christie's für das untere Drittel der Gesellschaft
Plötzlich hält jemand die Melone hoch, diesen schwarzen Hut. Da wird es unruhig in den S-Bahn- Bögen am Hackeschen Markt. Ein Schnäppchen für die professionellen Trödler. Ein Ereignis für die Voyeure und die Angeber, die sich bei der „Versteigerung von Fundsachen und Hinterlegungsgepäck“ einfinden. Schon hat der große Grauhaarige mit den weißen Schuhen sich das schwarze Ding auf die Halbglatze geschoben. Macht seine Verbeugung zu den Leuten in das neonbeleuchtete Gewölbe hinein. Auch das allmonatliche Christie's für das untere Drittel der Gesellschaft braucht etwas Show.
Und was die Leute alles liegenlassen in den Zügen in Berlin! „Im Einzugsbereich der Deutschen Reichsbahndirektion Berlin“, korrigiert der Chef, der Auktionator gewissermaßen. Also Schirme vergessen die Zugfahrenden natürlich, noch und nöcher. Geldbörsen außerdem, Tüten und Koffer. Die parapluies werden nur im Doppelpack angeboten, Portemonnaies und Brieftaschen zu vieren. Gesteigert wird das geleerte Zeug, je nachdem, ab einer bis sechs Mark. Dann geht's in Markstücken hoch bis 30 Mark. So weit kommen die Schirme nicht. Selbst ein eleganter blauer findet für sechs Mark wieder eine Besitzerin.
Für einen Augenblick taucht eines der Schicksale auf, die sich hinter den Fundsachen verstecken. Ein unsicherer junger Mann. Viel zu schick ist er, um hier teilzunehmen. Viel zu nervös, um den Preis nicht unnötig zu treiben. Er stellt sich auf die Spitzen seiner schwarzen Schuhe und guckt hoffnungsvoll in die Fundregale. Dann fällt sein Blick aufs Publikum. Als Konkurrenten um sein Eigentum mag er sie empfinden. Schließlich faßt er sich ein Herz und fragt eine der geschäftigen Reichsbahnerinnen: „Haben Sie mein ... gefunden?“ „Das kommt frühestens in drei Monaten hier an“, sagt sie, „Sie müssen zur Fundstelle. Morgen ab zehn hat die auf.“ Schon ist er draußen, erleichtert und enttäuscht zugleich.
Vier Mark lautet das Anfangsgebot für die Melone. Auch ohne Schirm und Charme. Dafür mit Rucksack und einem schwarzen Anzug aus dem Jahre 1958. Ein passables Stück. Glücklicherweise zu klein für den Angeber, der sich samt seinem – so zutreffend benannten – Sweatshirt in das schöne Sakko zwängen wollte. Vier Mark, fünf, sechs, sieben, sieben, acht, neun, zehn... schnellen die Gebote in die Höhe. Manche Hand bleibt preistreibend gereckt. Ab 30 Mark geht's langsamer, weil in Fünfer- Schritten. Bei einem Fuffie ist Schluß. Eine Oma fischt ihn stolz aus der Börse. Dann nimmt sie den Hut, fährt mit der Hand vorsichtig den runden Filz ab. Ihre Nachbarin hat Teil an der Freude. Das Etikett im Innern wird begutachtet: Made in Great Britain. „Gleich setzt sie ihn auf“, vermutet einer neben mir, auch er ein Voyeur. Aber das macht sie nicht. Die Melone verschwindet im Rucksack. Ihre Besitzerin gibt acht, was noch alles aus dem Fundus der Reichsbahn hervorgekramt wird.
Zweitausend Mark sei der Tagesumsatz, behauptet der Auktionator. Versteigert wird, vom ersten des Monats an, bis alles weg ist. Drei Tage dauert das, höchstens. Zuvor werden die Fundsachen geprüft. Bei den Schlafsäcken wird das Publikum darüber immmer wieder aufgeklärt. Das heißt dann: „Der Reißverschluß funktioniert noch.“ Was nicht sauber ist, wird weggeworfen. „Schließlich sind wir kein Waschsalon!“ Im übrigen werden die Sachen vor der Versteigerung sortiert. Wie sonst fände sich in einer schmalen Aktentasche ein holländisches, ein englisches und ein russisches Wörterbuch? „Wir haben da unser System“, lautet die knappe Auskunft einer Mitarbeiterin auf die Frage nach dem Sortierprinzip. Warum es nur abgewetzte Sachen gebe? „Das fragen Sie mal den Chef.“ Der will erst den Ausweis sehen und dann einen Interviewtermin vereinbaren. Mein Voyeurskollege meint indes: Feine Leute finden ihre Sachen wieder! Außerdem werde hier nicht nur sortiert, sondern auch selektiert.
Also weiter Regenschirme für zwei bis sieben Mark. Zwei Kinderuhren, noch verpackt, kosten acht Mark. Für eine Revue Auto Focus 770 bietet einer 27 Mark, hinterher putzt er mit Hingabe den Fotoapparat. Vor seinen zusammengekniffenen Knien stauen sich die Plastiktüten mit Plunder. Ein Sammler offenbar. Ein anderer ersteht eine Matrjoschka und 16 langstielige Holzlöffel, die mit einem wunderbaren Blumenmuster verziert sind. Wo sollte Matrjoschka hinfahren, wo kam sie her? Bis einen der Angeber wieder herausreißt: weil er für ein Dutzend häßlicher Stoffdeckchen einen Zehner bietet, ehe der Auktionator auch nur den Mund auftun kann. Schwups! ist er den kleinen Blauen los und blinzelt ratlos in die Plastiktüte. Pech gehabt. Denn, so hatte der Auktionator am Anfang verkündet, „alle Dinge, besonders die Wertgegenstände, sind vom Umtausch ausgeschlossen“. Christian Füller
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen