: Tödliche Blockadepolitik von Amts wegen
■ Interview mit Rainer Grote von der Bonner Hämophilie-Interessengemeinschaft
taz: Wie viele HIV-verseuchte Blutprodukte sind heute noch im Umlauf?
Rainer Grote: Man muß von einer eher hohen Zahl ausgehen. Das von Seehofer genannte Risiko von eins zu einer Million halte ich für viel zu niedrig.
Was sagen Sie zu dem Köpferollen in Bonn und Berlin?
Das kann nur ein Anfang sein bei der Aufarbeitung des gesamten Blutskandals. Wir sehen uns jedenfalls bestätigt, daß es schwere Versäumnisse im Bundesgesundheitsamt (BGA) und im Bundesgesundheitsministerium gegeben hat. Es war schwer, dies zu beweisen, aber jetzt liegt ja ein solcher Beweis auf dem Tisch.
Was werfen Sie dem Berliner BGA vor?
Das Bundesgesundheitsamt hatte schon 1982 Erkenntnisse über den Zusammenhang von Blut und Blutprodukten und der HIV- Infektion. Die Gefahr, daß sich Tausende von Blutern anstecken, war bekannt und ist auch dokumentiert in einer Schnellinformation im Bundesgesundheitsblatt.
Dann hat es bis zum Oktober 1985 gedauert, bis endlich der HIV-Test für Spenderblut vorgeschrieben wurde?
Dieser Test stand schon 1984 zur Verfügung. Anstatt ihn sofort als zwingende Vorschrift vorzuschreiben, hat man gewartet und immer nur darüber gesprochen, wie unsicher dieser Test angeblich noch sei. Auch die Inaktivierung der Blutgerinnungspräparate, die erst ab Oktober 1985 aidssicher gemacht wurden, kam viel zu spät. Hinzu kommt, daß man zwar verboten hat, daß nicht inaktivierte Präparate auf den Markt kommen, aber die alten Medikamente, die schon auf dem Markt waren und die bis zu zwei Jahren haltbar waren, die hat man nicht zurückgerufen.
Bei der Entlassung von Großklaus und Steinbach spielten solche Versäumnisse aber keine Rolle. Da geht es nur um die 373 verschwiegenen Fälle. Glauben Sie, daß der ganze Skandal und die BGA-Politik in der Frühphase von Aids ähnlich wie in Frankreich jetzt nochmal aufgerollt wird?
Das wird mit Sicherheit noch zum Thema. Herr Steinbach, der vorgestern entlassen wurde, war jahrelang verantwortlicher Mitarbeiter im BGA, und er ist für jene Blockadepolitik verantwortlich, die für viele Bluter tödlich war. Die Konsequenzen, die das BGA in der Frühphase der Aids-Krise gezogen hat, waren nahezu Null. Das muß jetzt alles auf den Tisch, und es darf nicht bei den 373 Fällen stehenbleiben.
Was haben die Betroffenen und ihre Angehörigen bisher an Entschädigung erhalten?
Die Betroffenen mußten bisher in Einzelverhandlungen mit der Pharma-Industrie um ihre Rechte kämpfen und haben dabei Einzelvereinbarungen erzielt. Das läuft dann unter dem Stichwort Sachschadenregulierung, weil man mit dem Begriff Schmerzensgeld ein schuldhaftes Verhalten eingestehen würde. Den Betroffenen wurde gesagt: „Ihr habt noch etwa zwei Jahre zu leben“, und diejenige Summe, die der Kranke in den zwei Jahren in seinem Beruf verdient hätte, die stand dann zur Disposition. Für Rentner oder Arbeitslose sind gerade noch die Beerdigungskosten zusammengekommen. Eine angemessene Entschädigung hat es bis heute nicht gegeben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen