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Wie deutsch ist es?

Von „Caligari“ über „Jud Süss“ zu „Solo Sunny“ – zwei Geschichtsbücher zum deutschen Film  ■ Von Mariam Niroumand

Was ist deutsch an dieser Reihe: Arztfilm, Aufklärungsfilm, Bergfilm, Edgar-Wallace-Film, expressionistischer Film, Heimatfilm, Karl-May-Film, Kinderfilm, Lustspiel, Melodram, Preußenfilm, Problemfilm, Revuefilm, kleiner schmutziger Film, Sexfilm, Straßenfilm?

Die Autoren der im Metzler Verlag erschienen „Geschichte des Deutschen Films“ sind auf der Suche nach einer Antwort in alle Richtungen ausgeschwärmt. Zwar führt eine Chronologie durch das Buch, die mit der Geburt des Films beginnt – und die von einer sorgfältig edierten Kurzchronik und Bibliographie am Ende ergänzt wird. Aber wie in jedem guten Zugfahrplan sind auch immer die Anschlüsse mit vermerkt: Was hatte Marianne Hoppe mit Barbara Stanwyck zu tun, wieviel hat „Hitlerjunge Quex“ vom sowjetischen Montagefilm, und warum hat sich im Spielfilm der DDR ästhetisch weniger ereignet als im Dokumentarfilm?

Die Raffinesse dieser Filmgeschichte erweist sich am Beispiel der Frühphase, die in zwei verschiedenen Aufsätzen betrachtet wird. Wolfgang Jacobsen, Filmhistoriker bei der Stiftung Deutsche Kinemathek und einer der drei Herausgeber, schildert die Stimmung um die Jahrhundertwende am Beispiel des Umgangs mit Licht: Während die Gründerväter die erleuchtete Stadt noch für den Garanten von Sicherheit und Ordnung hielten (man sprach von „Ordnungsbeleuchtung“), erschien sie den Söhnen schon bald als Bedrohung, als „Alptraum von Helligkeit, aus der es kein Entweichen gab“. Wolfgang Schivelbusch, dem Jacobsen diese Beschreibung verdankt, zieht dann auch die Linie zwischen diesen beiden Polen, die zum Kino führt: „Erst in der Dunkelheit zeigt sich die Macht des künstlichen Lichtes, ein Stück eigener Realität zu schaffen. In der Dunkelheit ist das Licht das Leben.“ So entstehen aus den Panoramen und Dioramen des 19.Jahrhunderts die ersten projizierten Bewegungsbilder, Muybridge kommt, Anschütz mit seinem „Schnellseher“, Edison, und plötzlich ist man bei den ersten Kurzfilmen. „Eine komische Begegnung im Tiergarten“ heißt einer, oder „Eine lustige Gesellschaft vor dem Tivoli in Kopenhagen“, aber auch „Sprengung eines Fabrikschornsteins“. Es handelt sich im wesentlichen um verfilmte Varieté-Nummern, aber auch um erste Dokumentarversuche. Schon bald wendet man sich vorsichtig auch Erzählformen zu: „Der Hauptmann von Köpenick“ wird gleich von mehreren Firmen angeboten. Die ersten festen Spielstätten lösen die Jahrmärkte und Varietés als Vorführstätten ab. Gegen das Prinzip des „Kinos der Attraktionen“ setzt sich das „Erzählkino“ ab, das sich am Geschmack eines eher bürgerlichen Publikums orientiert. Die ersten Lehrer und Beamten waren zum Kampf gegen Schmutz und Schund, gegen „brutale Bildreporterei“, gegen die „triviale Dreiheit von Nick Carter, Kino und Berliner Mietshäusern“ angetreten. Erfolg: Der Bühnenschriftstellerverband weigert sich, Kinoproduktionen zuzuarbeiten. Daraufhin schließen die Filmproduzenten Verträge mit einzelnen Autoren wie Gerhart Hauptmann; und so ward der Autorenfilm geboren. In keinem anderen Land ist er eine solche Notkonstruktion gewesen. Die Gründung der Ufa im Jahre 1917 war dann der entscheidende, auf General Ludendorff zurückgehende Versuch, die erratische, ins Freie strebende deutsche Filmindustrie zu vereinheitlichen und zur „planmäßigen Beeinflussung der großen Massen im staatlichen Interesse“ einzusetzen.

Heide Schlüpmann wiederum, Pionierin der Zeitschrift „Frauen und Film“, leuchtet den „dunklen Kontinent“ aus, als den sie jene Jahre sieht. Mit großer Freude am Objekt, an den frühen Asta-Nielsen-Vehikeln wie „Die Filmprimadonna“, stellt sie fest, daß das frühe Kino revolutionär war: nicht nur als ein öffentlicher Ort für Frauen, (die damals noch, wenn sie ohne Begleitung am Abend auf der Straße waren, unter Prostitutionsverdacht verhaftet werden konnten), sondern auch als Ort intimer Nähe zu Männern. Hier konnte man sich im Dunkeln nah sein, ohne daß ein Ehevertrag zu erfüllen oder ein Kind zu versorgen war. Was war deutsch daran? In Amerika war das frühe Kino ein Versammlungsort für Immigranten; in den Nickelodeons lernten Osteuropäer, wie man ein Taschentuch benutzt, oder erfreuten sich an Aufnahmen aus dem Wilden Westen – verarbeiteten den Zeitsprung zwischen Alter und Neuer Welt. In Deutschland war es der Sprung zwischen (bürgerlicher) Privatsphäre und Öffentlichkeit: Im Halbdunkel des Kinos waren alle gleich; Schievelbuschs oben zitierte „eigene Realität“, die „zweite Welt“, erhält so ein schaurig-süßes, utopisches Flair.

Mehr oder weniger bewußt reflektieren die Autoren zugleich auch immer auf den Zustand der Filmtheorie (häufig differenzierter als etwa im Beitrag „Kritik und Theorie“). So setzt sich Heide Schlüpmann aufs ermutigendste mit der Sackgasse auseinander, in die die deutsche feministische Filmkritik durch ihre Vasallentreue zu den angelsächsischen Vorreiterinnen wie Laura Mulvey, Theresa de Lauretis und anderen geraten war. Jene hatten nämlich, mit Lacan im Gepäck, in den Hollywood-Filmen die immer gleiche Struktur männlichen Begehrens und männlicher Schaulust entdeckt, die zu einer immer gleichen, passiven Positionierung der Frauen führte. Wie das böse Lenor-Gewissen tauchte der Lacansche Spiegel hinter jeder Filmstudentin auf, die fand, daß Asta Nielsen so passiv gar nicht war. Schlüpmann plädiert nun gegen den zum Teil „ahistorischen, formalistischen“ Zug der Lacanschen Psychoanalyse und für die Wiederaneignung des Kracauerschen Blicks, der schon in den zwanziger Jahren die Beziehung zwischen dem Film als Massenware und dem Liebespotential der „kleinen Ladenmädchen“ herstellte. Mehr Gesellschaft, mehr Geschichte, mehr Licht ins Dunkel.

Beiträge von Karsten Witte, der dem Nazi-Unterhaltungsfilm in alle möglichen Verästelungen bis hin zu Fassbinder folgt; von Claudia Lenssen, die die selbstgefärbten Latzhosen der siebziger Jahre auf die „Macht der Gefühle“ abklopft, oder Norbert Grob, der die Crux des Autorenfilms an den Autoren selbst beschreibt, runden die Chose ab. Künftige Bücher zum 100. Geburtstag des deutschen Films werden es nach diesem Band ziemlich schwer haben.

Sehr viel prosaischer dagegen ist die Neuauflage der Hanser-Filmgeschichte von Hans Günther Pflaum und Hans Helmut Prinzler, die in zwei langen, nicht besonders inspirierten Essays eine West- und eine Ostgeschichte des deutschen Films schreibt. Interessante Fragen stellt ein kurzes Kapitel über den DEFA-Dokfilm, aber die fröhliche, spekulative Lust, die den Metzler-Band so vergnüglich macht, fehlt in diesem, der lieber vorsichtig der Chronistenpflicht genügt. Verdienstvoll ist das Kleingedruckte: ein Anhang mit Filmographie, in dem weder Christoph Schlingensief noch Birgit Hein fehlen; mit Filmpreisen, Festivalbeschreibungen – und Adressen, Kurztexten zu „Produktion“, „Verleih“ oder „Archiven“. Nebeneinander ins Regal gestellt, wappnen die beiden Bände den Filmfreund für Pflicht und Kür.

Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes, Hans Helmut Prinzler (Hrg.): „Geschichte des Deutschen Films“. Metzler, Stuttgart 1993, 595 S., kart.

Hans Günther Pflaum, Hans Helmut Prinzler: „Film in der Bundesrepublik Deutschland“. Carl Hanser Verlag, München 1993

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