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Kur für Kritiker

■ Geradijan Rijnders „Liebhaber“ im TAT Frankfurt erstaufgeführt

Der Theaterkritiker einer großen holländischen Tageszeitung heißt mit Nachnamen Lievhebber, Liebhaber also. Der Mann wurde unter seinem namentlichen Vorzeichen fast zwangsläufig Theaterkritiker, ein Liebhaber, dem es an Masochismus nicht mangeln darf, um unter den Aberhunderten von Aufführungen, die er als quälend empfinden wird, jene wenigen Inszenierungen zu entdecken, die den Gründen seiner Liebhaberei genügen können.

Ein Kritiker ist, sofern er mehr sein muß als der Chronist des Theaters am Heimatort, ein Getriebener, ein Suchender, ein Süchtiger und gelegentlich ein Verzweifelter.

Der holländische Dramatiker Geradijan Rijnders, der zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse der deutschen Erstaufführung seines „Liebhabers“ beiwohnte, hat Mitleid mit den schreibenden Kollegen, die sich auf ihn stürzen, den Dramatiker. Sich auf alles stürzen, was einer Bühne ähnlich sieht, nach allem greifen, was die kurze Lust eines tatsächlich Erlebten verspricht, was nach Kunst riecht, die sich in Menschen verkörpert. Natürlich war er wieder vergebens, dieser Abend, und der Liebhaber kommt nach Hause, müde, aber vor allem enttäuscht. Sogar maßlos enttäuscht.

„Fuckfuckfuck“, schreit Rijnders' Liebhaber und beginnt das Theater herbeizureden, herbeizustampfen, herbeizusehnen, das er rezensieren möchte. Ein Himmelreich für ein Theater, das sich lohnt, sein schreibendes Leben daran gehängt zu haben.

Im Theater am Turm wird daraus eine Kur für Kritiker. Sie vor allem haben das Haus betreten, große und kleine, nachwachsende und zurechtgestutzte, witzige und verquälte Kritiker, die man immer wieder sieht, auf Premieren in Stuttgart, Bremen, Berlin und Wien. Sie alle sind vor Enttäuschung krank. Sie alle gehen zur Kur ins Theater am Turm. Und lassen sich von einem Kritiker, der ein Schauspieler ist, ins Gesicht sagen, was sie sich immer schon gedacht haben: „Fuckfuckfuck“.

Natürlich kommen die Kritiker so billig nicht davon. Der Kritiker auf der Bühne ist nur ein Wicht. Ein Scheuklappen-Liebhaber. Während sein Sohn auf der Bühne den Schwanz aus der Hose holt, später mit seiner Mutter schläft, während er sich vergebens Heroin in die Vene zu spritzen versucht, während seine Mutter das Heroin unter ihren Alkohol kippt, während in der Pfanne die Koteletts anbrennen, der Sohn mit einem Baseballschläger das Radio zertrümmert und mit einer Stehgarderobe den Fernseher zerschmettert, während der Sohn die Mutter erwürgt und sich selbst die Augen herausschält, während er sich die Pulsadern aufschlitzt, während all dem kommt der Kritiker nicht aus seinem Trenchcoat heraus. Er übersieht den Skandal seiner Umgebung in der blinden Hoffnung auf einen Theaterskandal. Er beschwört das Theater, Realität zu sein, während auf der Bühne des Theaters am Turm nichts gespielt scheint, alles real brutzelt, implodiert und verbrennt. Er übersieht seine imaginäre Realität, die Exzesse seiner Frau und seines Sohnes, da diese wie in einem echten Theater nur gespielt sind.

Der Kritiker schimpft, heult, tobt, und das Publikum – das war diesmal vor allem das der Kritik – lacht sich scheckig. Die Hoffnung auf ein echtes Gegenwartsstück, die der Liebhaber immer noch nicht aufgegeben hat, erfüllt sich just in dem Moment, da er tief betrübt über das schreckliche Theater die Bühne betritt und die wundersame Petitesse der niederländischen Toneelgroep Amsterdam und seines Autors und Regisseurs Geradijan Rijnders seinen Lauf nimmt. Arnd Wesemann

Regie: Gerardijan Rijnders; Bühne: Hans Klasema; Übersetzung: Monika Thé. Mit: Fred Goessens, Titus Muizelaer, Lineke Rijxman. In deutscher Sprache.

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